4. documenta (1968)

Aus: Meilensteine: 50 Jahre documenta (2005)

Im Unruhejahr 1968 offenbarte sich endgültig, dass der Versuch, das einmal gewählte documenta-Konzept nur fortzuschreiben, nicht mehr glückte. Wohl öffnete sich die documenta 4 dem Aktuellen in radikaler Weise. Denn neben den unterhaltsamen Arbeiten der Pop- und Op-Art waren auch die von vielen als spröde empfundenen Werke der Minimal-Art zu sehen. Doch Werner Haftmann und Werner Schmalenbach hatten diese Öffnung nicht mittragen wollen und waren vorher ausgestiegen. Andererseits hagelte es Proteste, weil die politisch-kritische und die Aktions-Kunst keinen Zugang hatten. Die Eröffnungspressekonferenz wurde durch Künstler wie Wolf Vostell und Jörg Immendorff gestört.
Es sollte Arnold Bodes letzte documenta werden. Zusammen mit Jean Leering inszenierte er eine Ausstellung, die von den Amerikanern dominiert wurde und die der documenta zu einem Popularisierungsschub verhalf. Es gab eine erste Besucherschule von Bazon Brock, und wochenlang hielt Christo die Öffentlichkeit mit der Frage in Atem, ob es gelingen werde, seine 85 Meter hohe Skulptur verpackter Luft zum Stehen zu bringen. Und er schaffte es. Es war eine vitale Ausstellung, die zur Momentaufnahme der marktgängigen Kunst wurde. Sie funktionierte als Unterhaltungsmaschine, in der man das Environment Roxy’s von Edward Kienholz mit einer Mischung aus Lust und Schaudern betrat.

1000 Werke von 152 Künstlern. 207000 Besucher. Etat: 2,104 Millionen Mark. Kosten: 2,146 Millionen Mark. Erlöse und Spenden: 1,087 Millionen Mark, Zuschüsse: 1,1 Millionen Mark. Orte: Museum Fridericianum, (Neue) Galerie, Orangerie und Karlsaue.

Beispielhafte Werke aus: Texte zum documenta-Mobil (2005)

Konrad Klapheck (*1935): Der Krieg, Ölbild, 1965

Schreib- und Nähmaschinen, Telefone und Duschen– das sind die Motive, die der Düsseldorfer Konrad Klapheck bevorzugt. Klapheck malt diese Maschinen in einer überdeutlichen Klarheit. Sie sind stilisiert, ins Monumentale gesteigert und magisch aufgeladen. Die Bilder wirken seelenlos. Und doch sind sie emotional angelegt. Klapheck merkte nämlich, nachdem er 1955 sein erstes Schreibmaschinenbild gemalt hatte, dass er über diese Art der Kompositionen seinen Gefühlen unbewusst Ausdruck geben kann. Die Maschinen sind für ihn Mütter und Väter, Herrscher und Sexbomben, Junggesellen und Kämpfer. So wird der Titel dieses Bildes verständlich: „Krieg“ – die Maschinen scheinen angriffsbereit zu sein.

Andy Warhol (1928 – 1987): Flowers, Acryl auf Leinwand, 1964

Die Bilder, die uns im Alltag umgeben, brachte der Pop-Künstler Andy Warhol in den Kunstraum zurück: Bilder von Marilyn Monroe und von Suppendosen, von Elektrischen Stühlen und stilisierten Blumen. Warhol, der selbst aus der Werbebranche kam, übernahm per Siebdruck die Fotovorlagen aus Zeitungen. Er vereinfachte und verfremdete die Bilder und entlarvte sie als Klischees der Massengesellschaft, indem er von jedem Motiv ganze Reihen schuf. Mit Hilfe seiner Blumenbilder hatte Warhol für die documenta einen Fries geschaffen. Kein Idol oder Symbol war vor der Bearbeitung durch Warhol sicher. 1977 zeigte er in Kassel großformatige Improvisationen zum Symbol des Sowjetsystems – zu Hammer und Sichel.

Christian Megert (*1936): Spiegelraum (1964)

Op-Art und Pop-Art. Die Kunst war unterhaltsam geworden. Sie verarbeitete vertraute Bilder und benutzte die Effekte von Licht und Bewegung. Das zu allen Zeiten faszinierende Spiegelmotiv wurde nun nicht mehr gemalt, sondern zum Erlebnisraum umgestaltet. Der Schweizer Künstler Christian Megert schuf Reliefs mit Spiegelelementen und zeigte Spiegelfolien, die nach Art der Futuristen das eingefangene Bild zergliederten und vervielfältigten. Megerts große Attraktion war ein 30 Quadratmeter großer Spiegelraum, der sich ins Unendliche fortsetzte. Vor allem der sich nach unten öffnende Spiegelschacht bot nicht nur intime Einblicke, sondern verunsicherte auch die Besucher, die ihn betraten.

James Rosenquist (*1933): Fire Slide, Ölbild (!967)

Von den amerikanischen Malern war man Großformate gewöhnt. Aber dieses Bild von James Rosenquist, das eine ganze Wand im Treppenhaus des Museums Fridericianum füllte, sprengte alle Vorstellungen. Es war nicht nur über acht Meter hoch, sondern es wirkte auch wie der kleine Ausschnitt aus einem noch größeren Gemälde. Denn „Fire Slide“ (Feuerrutsche) zeigt die Beine und Schuhe eines Feuerwehrmannes, der an einer Stange zum Einsatz runterrutscht. Rosenquist setzte bei seinen Gemälden auf Überwältigung und Verblüffung. Seine Vorbilder hatte er in der Plakatmalerei entdeckt. In der documenta signalisierte das Treppenhaus-Bild den späten Triumph der Pop-Art.

Christo und Jeanne-Claude (*1935): 5600 Kubikmeter Paket, Ballonhülle und Seile (1967/68)

Rund sechs Wochen lang hielten der bulgarisch-amerikanische Künstler Christo und seine auf den Tag gleich alte Frau Jeanne-Claude die Kunstwelt in Atem: Würde es ihnen gelingen, das 85 Meter lange Luftpaket auf der Karlswiese vor der Orangerie zum Stehen zu bringen? Dreimal scheiterten sie. Endlich, im vierten Anlauf klappte es, und die documenta 4 hatte ihr Wahrzeichen. Unfreiwillig war der Beitrag Christos zur Aktion geworden, die der Ausstellung zu einer neuen Dimension verhalf. Von nun an waren die Zeiten vorbei, in denen die Ausstellung nach der Eröffnung unbelebt blieb. Wie bei seinen späteren Verhüllungsprojekten hatte Christo seine Arbeit durch Zeichnungen und Collagen vorbereitet.

Allen Jones (*1937): Perfect Match, Ölbild (1966/67)

Es war die Zeit der Tabubrüche. Der Londoner Pop-Art-Künstler Allen Jones thematisierte den Sex, der bis in die 60er-Jahre öffentlich nicht behandelt worden war. Seine Lieblingsmotive waren Frauen in hochhackigen Schuhen, die ihren Körper zur Schau stellten. Das von Jones gemalte Bild reduziert die Frau – im Sinne der damals immer kühner werdenden Werbung – auf die Sexsymbole, auf die Beine, die Brüste, den roten Mund und das volle Haar. Das Gesicht bleibt ansonsten leer – so als zähle es nichts. Diese zuspitzende Darstellung der Frau ließ lange übersehen, dass Jones auch ein hervorragender Maler war, der eine ungewöhnliche Bildsprache entwickelte.

Edward Kienholz (1927-1994): Roxy’s, Environment (1960/61)

Das Kunstwerk als Bühne. Vier Jahre zuvor hatte die documenta mit der Abteilung „Bild und Skulptur im Raum“ die Malerei in die dritte Dimension erweitert. Nun aber erlebten die Besucher eine richtige Inszenierung. Der amerikanische Künstler Edward Kienholz hatte aus alten Möbeln ein Bordell aus den 40er-Jahren nachgebaut. Der Raum war mit lebensgroßen Figuren und Puppen ausgestattet, die in dieser miefigen, kleinbürgerlichen Atmosphäre auf erschreckende Weise die Erniedrigung und Zerstörung der Menschen ausdrückten. Die Besucher konnten beim Gang durch diesen Raum nicht mehr vornehm auf Distanz bleiben. Die Wirklichkeit hatte sie auf überraschende Weise eingeholt.

Peter Brüning (1929-1970): Straßenwand, Mischtechnik (1968)

Diese Sprache verstand jeder: Punktreihen und Linien, Spuren und Verbindungen. Der deutsche Maler Peter Brüning reagierte auf das neue entstandene Verkehrszeitalter, das sich an Hand von Wegezeichen und Karten orientiert. Brüning entnahm den Karten die Zeichensysteme und übertrug sie in seine dreidimensionalen Bildräume. Es entstanden künstliche Landschaften, die das veränderte Wirklichkeitsverständnis verdeutlichten. Der große Sprung vom Bild zur Skulptur verkürzte sich in Brünings Werk zum kleinen Schritt. In dieser Art von Bildgestaltung sah Brüning die letzte Möglichkeit der Landschaftsmalerei. Darüber hinaus wurde er zu einem wichtigen Erneuerer der Bildsprache.

Joseph Beuys (1921-1986): documenta-Raum (1952-67)

Empörte Besucher demolierten den Raum. Sie meinten, da seien beziehungslos Tische, Stangen, Kisten und andere Objekte abgestellt worden. Erst später erschloss sich den Menschen, die mit dem Aktionskünstler Joseph Beuys näher in Berührung kamen, dass sich das Denken des Künstlers auf einer anderen Ebene vollzog. Die Materialien waren für ihn schon Träger von Botschaften: Die Batterie ist ein Energiezentrum, das Kupfer leitet die Kräfte, das Blei isoliert, das Fett nährt und der Filz wärmt und schützt. Beuys präsentierte die Objekte, die zum Teil aus Aktionen stammten, wie in einem Lager, aus dem man sich die Ausrüstung beschafft, die man für neue Unternehmungen braucht.

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