Aus: Meilensteine: 50 Jahre documenta (2005)
Hätte sich jemand 1972 träumen lassen, dass fast 30 Jahre später eine Ausstellung organisiert würde, die die Art und Wirkung der documenta 5 aufarbeitet? Im Jahre 2001 wurde jedenfalls in Kassel die Ausstellung Wiedervorlage Eine Befragung des Archivs zur documenta 1972 gezeigt. In ihr wurde mit dokumentarischen und künstlerischen Mitteln eine Annäherung an die documenta gesucht, die als ein Neuanfang eingestuft wird.
1972 empfanden viele die Ausstellung als Skandal. Die Gleichsetzung von Kunst und Nichtkunst (Kitsch, Werbung, Bildnerei der Gesisteskranken) konnten sie ebenso wenig ertragen wie Werke und Aktionen der neuen Avantgarde. Zusätzlich geriet der als Generalsekretär berufene Harald Szeemann (1933-2005) unter Beschuss, weil ein Defizit entstand. Heute aber gilt die documenta 5 als das Schlüsselereignis in Kassel.
Auch im Vorfeld der documenta 5 hatte es Streit und Krisen gegeben. Vor allem scheiterte der Versuch, die Ausstellung als eine riesige Besucherschule anzulegen. Zu den unvergesslichen Elementen der documenta 5 zählte die Abteilung der Fotorealisten. Szeemanns Lieblingsabteilung war die der Individuellen Mythologien, in der die Künstler der neuen Generation vorgestellt wurden, die für die nächsten zwei Jahrzehnte bestimmend bleiben sollten. Zu den Entdeckungen zählten Künstler wie Richard Serra, Mario Merz, Richard Tuttle, Richard Long, Gilbert & George. Aktions- und Ereigniskünstler, die vier Jahre zuvor noch protestiert hatten, fanden ebenfalls ihre Bühne. Durch Joseph Beuys, der 100 Tage lang in seinem Büro für direkte Demokratie durch Volksabstimmung mit Besuchern diskutierte, gewann die Ausstellung auch vitale politische Dimension.
180 Künstler nahmen mit Werken und Aktionen teil, dazu Objekte der Alltagskultur. 220000 Besucher. Etat: 3,48 Mio. Mark. Erlöse und Spenden: 1,076 Mio. Mark, Zuschüsse: 2,1 Mio. Mark. Defizit 800000 Mark. Orte: Museum Fridericianum und Neue Galerie.
Beispielhafte Werke aus: Texte zum documenta-mobil (2005)
HA Schult (*1939): Biokinetische Landschaft (1972)
Im Hinterhof des Museums Fridericianum lag eine kleine Hügellandschaft. Sie wirkte unansehnlich und wie vergoren. Zivilisationsreste waren erkennbar, der Müll unserer Zeit. Auf dem Hügelplateau war ein Zelt auf geschlagen. Ein Kofferradio war davor abgestellt. Daneben stand ein schwarzer Soldat, der diese Landschaft bewachte. Der Kölner Aktionskünstler HA Schult, der mit seiner Partnerin Elke Koska gerne selbstdarstellerische Auftritte zelebriert, hatte mit dieser Landschaft eine der eindringlichsten Arbeiten zur Umwelt- und Abfallproblematik geschaffen. Der Soldat hielt zwar nur für wenige Tage Wache, aber die Arbeit setzte sich im Bewusstsein fest.
Joseph Beuys (1921-1986): Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung (1972)
Hatte Joseph Beuys die Lust an der Kunst verloren? Statt ein Werk in der documenta zu zeigen, richtete er im Kasseler Museum Fridericianum ein Büro ein, in dem er 100 Tage lang mit den Besuchern über Politik, Wirtschaft, Geld und Kunst diskutierte. Nein, Beuys hatte die Kunst nicht aufgegeben. Er hatte nur gesehen, dass ihm eine Ausstellung wie die documenta die Möglichkeit eröffnete, seine weit über die Kunst in die Gesellschaft reichenden Ideen vorzutragen. Die Gedanken waren dabei genauso Teil seiner künstlerischen Arbeit wie die Werke, die er aus den neu gewonnenen Vorstellungen entwickelte. Damals deutete sich an, dass er nach Wegen suchte, um direkt in der Gesellschaft wirksam zu werden.
Chuck Close (*1940): John, Acryl auf Leinwand (1971)
Dreimal hatte die documenta versucht, der Kunst den Realismus auszutreiben. 1972 aber war er mit neuer Kraft wieder da. Und zwar in verschärfter Form. Die junge Generation der Fotorealisten arbeitete nicht nur genau nach der Natur, sondern folgte in der Malerei exakt den Fotovorlagen. Im vielfach vergrößerten Gesicht des Mannes (John) sah man nicht nur Falten und Poren. Auch die Unschärfen der Fotografie wurden übernommen. Das Abbild hatte eine neue Wirklichkeit geschaffen, und die war in den Großporträts von Close zu sehen. 20 Jahre später brauchte die Fotografie nicht mehr diese malerischen Übersetzungen, sondern stellte selbst diese übergenauen Großformate her.
Claes Oldenburg (*1929): Maus Museum, 1972
In der Neuen Galerie waren Werke der Künstler zu sehen, die sich mit dem Museum auseinander setzten. Marcel Broodthaers zeigte sein Adler-Museum. Der schwedisch-amerikanische Künstler Claes Oldenburg hatte in Form eines Mickey-Maus-Kopfes einen flachen Museumsbau bauen lassen. Im Inneren sah man in den Schaufenstern Kitschobjekte und Kuriositäten, die Oldenburg zusammengekauft hatte. Manchmal war noch das Preisschild zu sehen. Dazwischen hatte er eigene Objekte gestreut, mit denen er Gegenstände aus der Konsumwelt parodierte oder eigene Formen ausprobierte. Die Wirklichkeit hatte das Museum erobert. Oder umgekehrt: Die Auslage im Warenhaus hatte musealen Charakter gewonnen.
James Lee Byars (1932-1997): Calling German Names, 1972
Der Amerikaner James Lee Byars war ein Zeremonienmeister der Kunst. Wo er auftrat, verbreitete er Feierlichkeit. Mal erschien er ganz in Weiß, dann in Rot und dann wieder in einem goldenen Anzug mit schwarzem Zylinder. Er setzte Zeichen und regte zum Nachdenken an über Leben und Tod, über Schönheit und Perfektion. Er war ein Poet und ein Priester. 1972, als er kaum bekannt war, trat er als Performance-Künstler auf, der die Menschen irritierte. Vom Giebel des Portikus am Fridericianum rief er deutsche Vornamen aus. Fast noch wichtiger als sein Rufen war seine Erscheinung: Er erweiterte die Reihe der Statuen auf dem Fridericianum um eine lebendige (rote) Figur.
Edward Kienholz (1927-1994): Five Car Stud, Environment (1969-72)
Wieder einmal zog Edward Kienholz die Besucher in seine Arbeit hinein, deren sozialer Kritik sie sich nicht entziehen konnten. Trotz einiger Initiativen zur Aufhebung der Rassentrennung, waren in weiten Teilen der USA die Schwarzen noch Ausgeschlossene. In einem Rundzelt hatte Kienholz eine brutale, gespenstische Szene nachgestellt: Weiße Amerikaner hatten mit ihren Autos den Wagen eines Schwarzen gestoppt, der eine weiße Frau bei sich hatte. Im Licht der Autoscheinwerfer sah man, wie die Weißen mit Masken über ihren Gesichtern den Schwarzen festhielten und kastrierten. Der Schwarze hatte statt eines Körpers eine Wanne, in dem das Wort Nigger schwamm.
Panamarenko (*1940): The Aeromodeller (1970/71)
Der Traum vom Fliegen ist alt. Aber er wird immer wieder neu geträumt von Technikern und von Künstlern. Der Belgier Panamarenko setzt die Träume in Bilder und Objekte um. Seine Fluggeräte, die er über viele Jahre anfertigte, haben die besten Voraussetzungen zum Fliegen, können aber doch nicht abheben. Sie bleiben eben Geschöpfe der Poesie. Das Luftschiff, das Panamarenko im Museum Fridericianum zeigte, wirkte groß und zerbrechlich. In dem Saal erweckte es den Eindruck, als sei es wie ein großes Tier gefangen und würde davon fliegen, falls sich nur eine Möglichkeit dazu ergäbe. Von dem Luftschiff mit seinem handfesten Förderkorb ging eine beruhigende, meditative Wirkung aus.
Charles Wilp (*1935): Nonne im Limonadenrausch, 1968
Eigentlich sollte die documenta 1972 eine einzige Besucherschule werden. Die documenta erhielt zwar ihre Besucherschule von Bazon Brock, das Ursprungskonzept konnte aber nicht umgesetzt werden. Es blieb nur der Ansatz, unterschiedliche Bildwelten miteinander zu vergleichen. Zur Kunst kamen Kitsch, politische Plakate, Spiegel-Titel und Werbung. Ein Ehrenplatz wurde dem Werbefotografen Charles Wilp eingeräumt, der in den 60er-Jahren vor allem mit seiner Afri-Cola-Werbung für Aufsehen gesorgt hatte. Nicht mehr das Produkt stand im Vordergrund, sondern seine übertrieben zugespitzte Wirkung. Die Nonnen im Afri-Cola-Rausch waren Zeichen für den damaligen Aufstand gegen die alten Ordnungen.
Abteilung Trivialrealismus (Kitsch)
Was macht Kunst aus, gegen welche Bilder muss sie sich durchsetzen? Die documenta 5 versuchte, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Deshalb präsentierte sie auch eine Abteilung zum Thema Kitsch (Trivialrealismus). Was aber hatte Kitsch mit Kunst zu tun? Eine Menge. Denn Claes Oldenburg und Marcel Broodthaers beispielsweise zeigten in ihren keinen Künstlermuseen ebenfalls Kitsch-Objekte. Das heißt: Die Auseinandersetzung mit dem Kitsch wurde nicht erst durch die Ausstellung hergestellt. Vielmehr zog sie Bildformen heran, mit denen sich die Künstler längst beschäftigten. Die Bilder der Pop-Art wären ohne die Vorbilder in der Werbung nicht denkbar gewesen.
Extra: Ein Visionär der Bildwelten (HNA, 21. 2. 2005)
Zum Tode des Ausstellungsmachers Harald Szeemann – Seine documenta 5 wurde legendär
KASSEL/ZÜRICH. Am 2. Oktober sollte er den Kasseler Bürgerpreis Das Glas der Vernunft in Empfang nehmen. Dankbar und mit Freude hatte er zugesagt. Einen Tag später wollte er in Berlin sein, um im Gropius-Bau seine Ausstellung Rundlederwelten zu eröffnen. Harald Szeemann steckte mitten in den Vorarbeiten zu dem Projekt, das das Verhältnis von Kunst und Fußball beleuchten soll und als offizieller Beitrag zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 geplant ist. Jetzt aber erlag er 71-jährig in Zürich überraschend einem Lungenleiden.
Harald Szeemann war der bedeutendste Ausstellungsmacher der vergangenen 40 Jahre. Unerschöpflich waren seine Ideen für Themen jenseits der Moden und Trends, untrüglich war sein Gespür für neue Ausdrucksformen der Kunst. Dabei war ihm die Kunst nie Selbstzweck, immer sah er sie in Beziehung zu den anderen Bildwelten, zu den Problemen der Wirklichkeit und der Gesellschaft. Eine seiner schönsten und visionärsten Ausstellungen war das 1983 verwirklichte Projekt Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Überblickt man die zahllosen Ausstellungen, die er seit 1961 organisierte, dann fügen sie sich selbst zu einem Gesamtkunstwerk.
Durch Szeemann wurde das Finden und Organisieren von Ausstellungen selbst zur Kunst, und er war es, der überhaupt den Beruf des freien Ausstellungsmachers etablierte. Für die Biennale in Venedig erfand er 1980 unter dem Titel Aperto eine Abteilung, die an ungewohnten Orten Ausblicke auf die junge Kunst eröffnete. Und 1999 sowie 2001 gab er als Chef der Biennale in der Lagunenstadt der von Krisen geschüttelten Schau neue Strukturen und eroberte dabei neue Räume.
Sein Meisterstück lieferte Szeemann 1972 in Kassel mit der documenta 5 ab. Es war die erste Ausstellung, die nicht mehr der documenta-Vater Arnold Bode organisiert hatte und die mit der Befragung der Bildwelten einen thematischen Ansatz bot. Alles wurde gezeigt – von der Werbung und politischen Propaganda bis zu den jüngsten Schöpfungen der Kunst, die Szeemann unter dem Titel Individuelle Mythologien präsentierte.
Vorbereitet hatte er diese Öffnung zu neuen Ausdrucksformen der Kunst mit seiner 1969 in Bern gezeigten Schau When Attitudes Become Form (Wenn Haltungen Form gewinnen). Dahinter verbarg sich ein Traditionsbruch: Nicht mehr die klassischen Bildformen und Skulpturen waren maßgebend, sondern Haltungen, aus denen mal plastische Formen wie bei Mario Merz oder Richard Serra, mal Aktionen wie bei Joseph Beuys oder mal poetische Bildfindungen wie bei Panamarenko entstehen konnten.
Die documenta 5 gilt heute als Wendepunkt – nicht nur für die Geschichte der Kasseler Weltkunstschau. Ihre herausragende Leistung wurde 2001 in einer eigenen Ausstellung im Kasseler Museum Fridericianum gewürdigt. Allerdings hatte Szeemanns legendäre Ausstellung erst einmal auch heftige Kritik hervorgerufen, weil viele auf diesen Traditionsbruch nicht vorbereitet gewesen waren. Und schließlich hatte es ein monatelanges Tauziehen um die Begleichung des entstandenen Defizits in Höhe von 800 000 Mark (rund 409 000 Euro) gegeben, obwohl alle gewusst hatten, dass die documenta 5 von Anfang an unterfinanziert gewesen war.
Mehrfach war er erneut als documenta-Leiter im Gespräch. Für die documenta 1987 war er sogar zusammen mit dem Holländer Edi de Wilde als Leiter nominiert worden; doch das Duo gab auf. Dafür sorgte Szeemann andernorts mit seinen ungewöhnlichen Ausstellungen immer wieder für Aufsehen.
Mit dem Kasseler Bürgerpreis sollten Szeemanns documenta 5 und sein Gesamtwerk gewürdigt werden. Die Preisverleihung hätte ihn zu einer Art Ehrenbürger der Stadt gemacht, als der er von vielen schon lange begriffen worden war. Jetzt muss die Feier zur Gedenkstunde werden.