documenta 1955

Aus: Meilensteine: 50 Jahre documenta (2005)

Die Bundesgartenschau von 1955 sollte ein Signal sein. Sie sollte zeigen, dass das im Krieg zerstörte Kassel wieder aufblühen werde. Als Arnold Bode (1900-1977) von dem Plan erfuhr, die Gartenschau durch eine Kunstausstellung zu begleiten, muss er wie elektrisiert reagiert haben. Hatte er nicht als Student und junger Maler in den 20er-Jahren an Ausstellungen in der Kasseler Orangerie mitgewirkt, in denen beispielhaft die aktuelle deutsche Kunst präsentiert waren war? Nun bot sich ihm als Ausstellungsgestalter und Kunstprofessor an der Kasseler Werkakademie die Chance daran anzuknüpfen und die Meister der Moderne in einem größeren, internationalen Rahmen zu zeigen. Zusammen mit seinen Freunden entwickelte er den Plan, einen Überblick über die Kunst des 20. Jahrhunderts in Europa zu geben – so wie er in Deutschland noch nicht zu sehen gewesen war.
Die Überlegung, dass man mit der documenta den Deutschen jene Werke vorführen könne, die ihnen die Nationalsozialisten als „entartet“ entzogen hatten, stellte sich erst später ein. Bode wollte vorrangig zeigen, „welche Werke bzw. künstlerische Gesinnungen die Grundlage bilden für den Begriff Kunst der Gegenwart in Europa“. Das heißt: Es sollte eine Brücke von den Pionieren der Moderne zu den Künstlern der Nachkriegszeit geschlagen werden. Die Ausstellung der Bilder sollte nach ersten Konzeptentwürfen den Kern bilden, um den herum Skulpturen, Beispiele der Architektur sowie Theater- und Filmaufführungen gruppiert werden sollten. Der enge Etat-Rahmen ließ aus diesen Plänen nur ein Beiprogramm werden. Die erste documenta schrieb Geschichte, weil ihr ein Maßstab setzender Überblick über die Kunst des 20. Jahrhunderts gelang und weil Bode das provisorisch hergestellte Museum Fridericianum in einen von allen bewunderten Ausstellungsort verzauberte.

670 Werke von 148 Künstlern, 130000 Besucher, Etat: 379000 Mark, davon 200000 Mark Zuschüsse. Ort: Museum Fridericianum.

Beispielhafte Werke aus: Texte zum documenta-mobil (2005)

Pablo Picasso (1881-1973): Mädchen vor dem Spiegel, Ölbild (1932)

Ein klassisches Motiv: Eine Frau steht vor einem Spiegel. Schaut man genau hin, sieht man, dass Spiegel aber nicht das genaue Abbild zeigt. Pablo Picasso, der hier seine junge Lebensgefährtin Marie-Thérèse malte, nahm das barocke Thema der Vergänglichkeit auf. Das Gesicht im Spiegel wirkt maskenhaft alt. Die flächig angelegte Komposition ist beherrscht von Ornamenten und geometrischen Figuren. Und auf zauberhafte Weise sieht man das Gesicht der Frau zugleich von vorne und im Profil. In dem Gemälde hat Picasso Abstraktion und Figürlichkeit wieder zusammengeführt.

Wilhelm Lehmbruck (1881-1919): Kniende, Bronze (1911)

Anmut und Schönheit. Wilhelm Lehmbruck gelang es, 1911 eine Frauengestalt zu schaffen, deren zugleich demütige und stolze Haltung von innen kommt. Mit dieser Skulptur setzte der 30-jährige Bildhauer ein neues Formenverständnis durch. Er öffnete die Figur zum Raum hin und streckte sie im Stil der Expressionisten. Frühzeitig wurde an ihr gerühmt, dass sie aus wechselnden Perspektiven unterschiedlich wirke. Unter den Nationalsozialisten wurden Lehmbrucks Arbeiten als entartet verfemt. 1955 erhielt die „Kniende“ in der Rotunde des Fridericianums einen Ehrenplatz.

Giorgio de Chirico (1888-1978): Metaphysisches Interieur mit großem Fabrikbild, Ölbild (1917)

Der Italiener Giorgio de Chirico ist ein Vorläufer der Surrealisten. Seine metaphysische Malerei überhöht die Wirklichkeit und gibt ihr einen magischen Charakter. Man sieht die Welt in Überschärfe. Das 1917 entstandene Bild ist programmatisch. Man blickt in eine Ateliersituation. In der Mitte das traditionelle Bild der Wirklichkeit. Darum herum aber verselbständigen sich die Objekte und Bilder. Sie gewinnen magischen Charakter. Die Schatten werden noch schärfer und geometrische Formen geben den Ton an.

Wassilij Kandinsky (1866-1944): Rot-Gelb-Blau, Ölbild (1925)

Mit großer Konsequenz hat der Russe Wassilij Kandinsky seine Bildsprache von der gegenständlichen Darstellung zur Abstraktion entwickelt. Als er dieses Bild malte, war er seit drei Jahren als Lehrer am Bauhaus in Weimar. Zu dieser Zeit waren seine Kompositionen vom freien Formenspiel geprägt. Deutlich lässt sich an diesem Gemälde ablesen, wie zwei unterschiedliche Kraftfelder (links hell – rechts dunkel) Spannungen aufbauen, aber im Gleichgewicht bleiben. Die Malerei wird zum Abbild des Geistigen.

Henry Moore (1898-1986): König und Königin, Bronze (1952-53)

Die Bronze-Skulptur des britischen Bildhauers Henry Moore bewegt sich auf der Grenzlinie zwischen Abstraktion und figürlicher Ausformung. Die Körper sind stilisiert und überdehnt, während die Hände und Füße realistisch ausgebildet sind. Die Frauenfigur ist würdig gestreckt, während der Mann leicht in sich zusammengesunken ist. Im Kopf des Mannes hat Moore Gesicht, Bart und Krone so miteinander verwoben, dass eine rätselhafte Form entstand. In dieser Figurengruppe deutete sich Moores Leistung an, die Skulpturen zu öffnen und den Raum mit einzubeziehen.

Fritz Winter (1905-1976): Komposition vor Blau und Gelb, Ölbild (1955)

Es war eine Herausforderung und ein Akt des Selbstbewusstseins: In dem großen Malersaal des Fridericianums hing jeweils ein Bild vor Kopf. Auf der einen war Picassos „Mädchen vor dem Spiegel“ zu sehen, auf der anderen Fritz Winters gerade erst fertig gewordenes, viel größeres Gemälde „Komposition vor Blau und Gelb“. Die großen Farbformen schwebten und schufen Raum, wo er eigentlich nicht zu sehen ist. Mit der Positionierung des Bildes wollte die Ausstellungsleitung signalisieren: Die Deutschen haben wieder Anschluss an die Kunstentwicklung gefunden. Doch auf internationaler Bühne half Winter die Gleichsetzung mit Picasso nicht.

Henri Matisse (1869-1954): Das rote Studio, Ölbild (1911)

Ein radikales Bild. Die gesamte Fläche ist von einem intensiven Rot überzogen. Obwohl man in einen Raum, in ein Studio blickt, behält das Bild seinen flächigen Charakter. Verschiedene Gegenstände und die Zimmerkanten sind nur zeichnerisch angedeutet. Nur wenige Dinge (etwa auf dem Tisch vorne und der Kommode hinten) sind als handfeste Gegenstände dargestellt. Auch die Bilder, die auf dem Boden stehen und an den Wänden hängen, gewinnen wirkliche Formen. Sie demonstrieren, wie der Maler in der Auseinandersetzung mit der Kunst um Bildideen und Kompositionsweisen ringt.

Umberto Boccioni (1882-1916): Der Lärm der Straße dringt ins Haus, Ölbild (1991)

Die Kunst war um 1910 in Aufruhr. Picasso und Braque lösten die Darstellung in kubische Formen auf. Die Expressionisten trugen die Farben nicht mehr nach der Natur, sondern nach Stimmungen auf. Und in Italien bemühten sich die Futuristen, die Malerei um das Element der Bewegung zu erweitern. Umberto Boccionis Komposition „Der Lärm der Straße dringt ins Haus“ (die heute dem Sprengel Museum Hannover gehört) gelingt dieser Sprung ins Bewegte. Indem er die Zentralperspektive aufhob und immer neue Ebenen für die Darstellung der Arbeiter und Häuser einzog, schuf er ein Szenarium, das wirkt, als sei es von einem Erdbeben erschüttert.

Paula Modersohn-Becker (1876-1907): Selbstbildnis mit Kamelienzweig, Ölbild (1907)

Große Augen, ein leicht geöffneter Mund. Die Künstlerin, die sich in diesem Selbstbildnis dargestellt hat, ist wachen, gespannten Sinnes. Ihr Blick geht knapp am Betrachter vorbei in die Ferne – eventuell bereit zu einem winzigen Lächeln. Paula Modersohn-Becker hat zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Welt einen neuen Blick auf den Menschen geschenkt. Die äußeren Formen wirken schlicht, manchmal auch derb, weil die Sprache der Farben wichtiger ist als die Oberfläche der Figur. Die ganze Kraft aber ist in den Ausdruck gelegt, in das Gesicht und die Augenpartie. Die Figur gewinnt eine unheimliche Präsenz.

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