Der Hang zum Persönlichen

Zur Sprache der Kunstkritik anlässlich der documenta X

I

„Mit ihrem offenen dunklen Haar, den großen, meist schwarz geschminkten Augen und ihren weiten Gewändern wirkte die zierliche, leise sprechende Kunsthistorikerin aus Paris bei ihren ersten Auftritten tatsächlich wie das Wesen aus der Mythologie: rätselhaft und wie aus einer anderen Welt.“ Wann hatte es das zuvor gegeben – dass der Bericht über eine Kunstausstellung und deren künstlerische Leitung mit einer Charakterisierung der Physiognomie und Kleidung eingeleitet worden wäre? Dabei bildet das den „Lübecker Nachrichten“ entnommene Zitat, das aus dem dpa-Bericht „Die Sphinx von Kassel“ stammt, keine Ausnahme, sondern ist symptomatisch für eine documenta-Berichterstattung und –Kritik, die alle bisher üblichen Wege verlässt, sich in ungewohnter Weise auf die Auseinandersetzung mit der künstlerischen Leiterin einlässt und dabei zu immer neuen Sprachbildern aus der Mythologie und Religion greift. Die Tatsache, dass 1997 mit Catherine David erstmals eine Frau an der Spitze der documenta stand, schien alle Maßstäbe außer Kraft zu setzen. Und viele Kritiken bestärken den Eindruck, dass auch nur mit einer Frau so umgegangen werden konnte.

Verstärkt wurde diese Sonderrolle Davids dadurch, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Berufung für viele deutsche Kritiker ein unbeschriebenes Blatt war, dass sie nicht vor deutlicher und ungeschickter Kritik an anderen (darunter an der documenta-Stadt) zurückschreckte, dass sie wie ihre Vorgänger Hoet und Fuchs ihre Künstlerliste geheim hielt, aber viele mit ihrer Vorliebe für Fotografie, Film und Literatur irritierte und dass sie offiziell keine namhaften Kuratoren in ihr Team holte. Daher ist es lohnend, die Kritiken zur documenta X unter dem Aspekt, in welcher Weise sich die Autoren mit der documenta-Leiterin auseinander setzen, zu beschäftigen. Allerdings kann man die Außerordentlichkeit der Bemerkungen und Sprachbilder nur verstehen, wenn man einen Blick auf die Kritiken zu früheren documenten wirft.

II

Die Voraussetzungen für die Kasseler documenta 6 waren denkbar schlecht: Erst gab es Streit in den Vorbereitungsgremien, so dass die Ausstellung von 1976 auf 1977 verschoben werden musste. Dann fiel die Wahl des künstlerischen Leiters auf Manfred Schneckenburger, der vielen als Verlegenheitskandidat galt und deshalb schon im Vorfeld Kritik einheimste. Diese Kritik verschärfte sich, als Schneckenburger und Lothar Romain im Vorlauf zur Ausstellung ihr Konzept für eine Medien-documenta vorlegten. Als dann die Eröffnung bevor stand, schien die Abteilung Handzeichnungen gefährdet, weil die dafür hergerichtete Kasseler Orangerie nicht die erforderlichen Klimawerte bot. Und schließlich kündigten Evelyn Weiss und Klaus Honnef unmittelbar nach der Eröffnung ihren Rückzug aus dem Leitungsteam an, weil sie mit der Raumzuteilung für die von ihnen verantworteten Abteilungen Malerei und Fotografie nicht zufrieden waren (und für ihre Malerei-Auswahl sofort heftigste Kritik einheimsten) und weil nachts Künstler und Galeristen Änderungen an der Hängung vorgenommen hatten. Ein einmaliger Vorgang.

Gleichwohl lesen sich – abseits der aktuellen Berichte darüber – die Kritiken zur documenta 6 vergleichsweise normal. Wohl werden die Ausstellungsmacher wie Schneckenburger, Weiss und Honnef sowie der Vordenker Lothar Romain als Verantwortliche genannt und zitiert. Doch gehen die meisten Kritiker recht schnell zur Beschreibung und Beurteilung der Ausstellung und ihrer Medienabteilungen (Malerei, Skulptur, Zeichnung, Fotografie, Video, Film, Performance, Buch) über. Es stehen das Konzept der Ausstellung, die gezeigten Werke und die Situation der Kunst („Ende der Avantgarde – was nun?“) zur Diskussion, aber die kritisierten Macher nur relativ beiläufig als Autoren. Vor allem gehen die Kritiken nicht ins Persönliche.

Anlässlich des 12. Kongresses des Internationalen Kunstkritikerverbandes AICA im September 1977 in Köln hatte der damalige AICA-Vize-Präsident Georg Jappe die zur documenta 6 erschienen Kritiken analysiert. Insgesamt hatte er 692 Ausschnitte durchgesehen. Seine anschließend für den Zustand der deutschen Kritik gezogene Bilanz war nicht ermutigend. Doch das ist hier nicht das Thema. Entscheidend vielmehr ist, dass sowohl Jappes Folgerungen als auch die ausgewählten Artikelbeispiele weder inhaltlich noch formal gegenüber Kritiken zu ähnlichen Anlässen auffällig sind. Bei aller Entschiedenheit des Urteils blieben die Kritiken durchweg sachlich.

III

Dabei hatte die documenta 5 eine Zäsur bedeutet. Sie hatte den künstlerischen Leiter, den Ausstellungsmacher etabliert, der sich und seine Arbeit nicht durch Gremien oder Theorien zu rechtfertigen versuchte, sondern zu seiner persönlichen Auswahl bekannte. Peter Iden, einer der wenigen, die von Anfang an von der documenta 5 begeistert waren, schrieb vor dem Hintergrund, dass sich Szeemann erst in einem längeren Prozess als der documenta-Macher durchgesetzt hatte, in der „Frankfurter Rundschau“: „Nun hat Harald Szeemann gewonnen. Und diesem Sieger gehört auch der ganze Ruhm.“ Die neue Rolle des Ausstellungsleiters sah auch Laszlo Glozer in der „Süddeutschen Zeitung“: „Diesmal hat der Aussteller sich als Regisseur kräftig dazwischen geschaltet.“

In der Folgezeit gehörte die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Leiter der documenta bzw. mit dem Leitungsteam zum Einleitungsritual vieler documenta-Kritiken. Das war für die Kunstkritik keine neue Erfahrung. Schon Emile Zola hatte sich in seinen beispielhaften Aufsätzen zu den Pariser Salons mehrfach mit der Zusammensetzung und Haltung der jeweiligen Jury beschäftigt. Besonders signifikant wurde die auf den Macher bezogene Ausstellungskritik 1982 bei der Beurteilung der documenta 7 von Rudi Fuchs. Weil der niederländische Museumsmann ein Konzept verweigerte und statt dessen mit einer poetischen Erzählung auf seine Ausstellung neugierig machte, rieben sich viele Kritiker an dieser Strategie. Am weitesten trieb das Heiner Stachelhaus in der „Neuen Ruhr-Zeitung“. Über die gesamte Länge seiner Kritik zog sich die Auseinandersetzung mit Rudi Fuchs hin. Gleichwohl blieben diese auf den Macher bezogenen Äußerungen immer im Kontext mit der Ausstellungsbesprechung und sprengten auch sprachlich nicht den Rahmen.

IV

Die Situation änderte sich schlagartig in den 90er-Jahren. Drei Faktoren trugen dazu bei:
1) Die Medienlandschaft hatte sich gewandelt. Durch das Entstehen von zahlreichen privaten und auch regionalen Rundfunk- und Fernsehsendern sowie Zeitschriften und Szeneblättern und die Tendenz, immer früher und personalisierte über kulturelle Ereignisse zu berichten, gewann die Berichterstattung zur documenta – auch schon im Vorfeld – einen völlig neuen Charakter.
2) Die documenta als Institution hatte sich noch weiter gefestigt und zog daher wachsendes Interesse der Medien auf sich.
3) Mit Jan Hoet war ein Museumsmann an die Spitze der künstlerischen Leitung getreten, der zum Medienstar taugte. Und indem er einerseits durch seine documenta-Marathon-Veranstaltungen in Gent und Weimar und andererseits durch seine ständige öffentliche Präsenz während der Laufzeit der Ausstellung stets neue Anlässe zur personenbezogenen Berichterstattung bot, rückte er selbst verstärkt in den Vordergrund und provozierte eine Emotionalisierung der Kritik.

Das führte dazu, dass sich der Umfang der documenta-Berichterstattung potenzierte. Selbst, die Medien, die schon immer und regelmäßig auf die documenta eingegangen waren, produzierten viel mehr. Abzulesen ist das unter anderem an den Veröffentlichungen der in Kassel erscheinenden „Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen“, aber auch an den Kunstzeitschriften „art“, die der documenta IX zwei Titelgeschichten widmete, und „Kunstforum“, die ihren Band 119 unter dem Titel „Die documenta als Kunstwerk“ fast ausschließlich dem Kasseler Ereignis widmete.

Es stellte sich aber auch ein neuer Stil ein. Mehr als zuvor wurde im Vorfeld und zum Start der Ausstellung der Ausstellungsmacher im Bild gezeigt; und die Intensität, mit der charismatisch wirkende (und daher von vielen besonders kritisch beäugte) Hoet für seine documenta IX in der Öffentlichkeit warb, forderte viele Kritiker zu einer ungewohnt ausführlichen Auseinandersetzung mit ihm und zu einer ungewöhnlichen Sprache heraus. Wolfgang Rainer konstatierte bereits in seiner Kritik in der „Stuttgarter Zeitung“ diesen Wandel: „Jan Hoet, der viel fotografierte, viel zitierte…“

Auf die Tatsache, dass die überbordende Kunstschau von 1992 vielen als ein unstrukturiertes Gesamtkunstwerk Hoets erschien, provozierte entsprechende Charakterisierungen. Konrad Schmidts Kritik in den „Ruhr Nachrichten“ trug denn auch den Titel „Ein Monument für Jan Hoet“. Wörtlich hieß es: „Hier wurde vielmehr Jan Hoet dokumentiert, sein Geschmack, sein Vergnügen… Diese gewaltige Schau in Kassel ist so etwas wie das Kunstwerk des verhinderten Künstlers Jan Hoet: eine Hoetiade.“ Aber es konnte auch noch stärker ins Persönliche gehen, mit Versuchen, den künstlerischen Leiter klein zu machen, wie sich bei Peter Iden in der „Frankfurter Rundschau“ andeutete: „Der für die maßlose Unternehmung verantwortliche Jan Hoet hat anlässlich einer dilettantisch geführten Pressekonferenz zur Eröffnung in seiner Art von Kindersprache noch einmal wiederholt…“

Es war Petra Kipphoff, die in der „Zeit“ dafür das Signal gab, mit Vergleichen aus anderen Lebensbereichen, die Rolle und Handlungsweise des Ausstellungsmachers fasslich zu machen: „Am Tage, als Jan Hoet sich in einen Zirkusdirektor verwandelte, da entdeckte er auch alle Facetten dieses ungewöhnlichen Berufs, der ja den Conferencier ebenso einschließt wie den Prediger, PR-Mann, Schmierendirektor und Herrscher im Olymp.“ Es ist, als hätte die „Zeit“-Kritikerin damit die Tonart vorgegeben, in der dann bei der nächsten documenta mit Catherine David umgegangen werden sollte. Wolf Schön arbeitete im „Rheinischen Merkur“ den Bezug zum Religiösen noch weiter aus: „…der gebeutelte Prediger in der Wüste, der mit seinem Glauben an die selbstreinigenden Kräfte der Kunst Berge versetzen will…“, ebenso Hans-Joachim Müller in der „Basler Zeitung“: „Das Wirken des messianischen Erweckungsgeistes…“

V

Die Kunst und das Religiöse. Viel ist geschrieben worden über die Ersatzrolle der Kunst für Glaubensbindung, über Museen und Kunsthallen als Tempel und Kirchen. Doch erst in den Versuchen, Catherine David in ihrer Eigenart zu charakterisieren, wurden die Metaphern des Religiösen auch auf die künstlerische Leiterin übertragen, wobei sich die Autoren gegenseitig zu überbieten schienen. Den inhaltlichen Anlass dazu hatte, die Tatsache gegeben, dass die documenta X nicht Kunstjahrmarkt sein wollte, sondern eine eine puristische, auf die politischen und künstlerischen Wurzeln der 60er-Jahre zurück verweisende Schau.

Am konsequentesten führte Dorothee Müller in der „Süddeutschen Zeitung“ in diese Dimension. In ihrer ersten Kritik heißt es: „Gelegentlich hat man bei Catherine David … den Eindruck, als sei eine Nonne im Bordell gelandet. Eine Nonne, die mit missionarischem Eifer aus dem Ort des Lasters einen der Tugend machen will.“ In ihrer zweiten Kritik nahm Dorothee Müller diese Bezugsebene wieder auf: „… die documenta … ist über weite Strecken unsinnlich und ihre Macherin weniger eine Hohepriesterin, welche die Kunst auf einen Altar hebt, als eine Zuchtmeisterin, die uns strenge Exerzitien abverlangt.“ Auch Petra Kipphoff bemühte die christliche Figurenwelt, als sie in einer documenta-Diskussion am Abschlusstag in Kassel von Catherine David meinte, sie sei „eher eine Maria Magdalena oder eine Flagellantin“.

Wo das Religiöse nicht taugte, suchten andere Autoren nach heroischen Gestalten aus der französischen Geschichte, mit denen sie Catherine David vergleichen konnten. Wolf Schön etwa im „Rheinischen Merkur“: Catherine David, in ihrer schimmernd intellektuellen Rüstung eine Jeanne d´Arc im Schlachtgetümmel des Kunstbetriebs…“ Auch Eduard Beaucamp sprach in einem Statement für die „Woche“ von einer Jeanne d´Arc, die „nach den vielen üppigen und populistischen Kunstfestivals, nach Orgien von Malerei, eine strenge Ideen-Diät verordnet“. Während Rüdiger von Naso die documenta-Leiterin als „späte Enkelin von Denis Diderot“ („Madame“) sah, nannte Peter Iden sie in der erwähnten Kasseler Diskussion einen „weiblichen Robespierre“.

Aber ist war keineswegs so, dass ausschließlich diejenigen, die die documenta X für gescheitert hielten, nach solchen mythischen Bezügen gesucht hätten. Kritiker und Verteidiger von Catherine David griffen gleichermaßen zu diesen Bildern, aus denen immer auch Anerkennung und Bewunderung ihrer Ausnahmeerscheinung spricht. Für Catherine David wurden in den Kritiken viele Beinamen gewählt: Madame Eigensinn, die Puristin, die Sphinx, die Ehrgeizige, die Kluge, die Einsame, die Kühle, die Beharrliche und die Schwierige. Solche Beinamen wirken vergleichsweise harmlos, wenn man sieht, dass in einigen Texten die Beobachtungen und Beschreibungen derart ins Persönliche gingen, dass man meint, es sei ein Psychogramm und nicht der Bericht über eine Ausstellung gefordert worden.
So liest man bei Martin Jasper in der „Braunschweiger Zeitung“: „Catherine David hat einen ganz schmalen Kopf. Aber da ist unheimlich viel drin. Catherine David sieht aus wie eine zerbrechliche Fee. Aber sie hat den Charme eines tiefgekühlten Brecheisens. Catherine David hat einen schönen, meist dunkelrot geschminkten Mund, aber zum Lächeln geht sie vermutlich in den Keller. Ob sie wirklich so ist oder sich raffiniert als arrogant-unnahbare Hirndiva inszeniert, ist angesichts der grassierenden Selbstvermarktungstricks im Großkunstbetrieb schwer auszumachen.“

Auch Roland Groß ging im „Darmstädter Echo“ vom Äußerlichen aus, wobei der Eindruck entsteht, Aussehen und Verhalten seien Kriterien für die Auswahl der künstlerischen Leiterin gewesen: „Viel ist über die Augen, das physiognomische Markenzeichen der diesmaligen, alleinigen documenta-Verantwortlichen gerätselt worden. David gilt als heiß-kalt bis kratzbürstig, als Pariser Sphinx, der das Wort `merde´ leicht über die Lippen des Schneewittchen-Gesichts kommt.“ Grotesk und frauenfeindlich wurde das Schneewittchen-Bild bei Birgit Kölgen in der „Westfälischen Rundschau“, sie setzte allem die Krone auf: „Sie sieht aus wie Schneewittchen – 20 Jahre nach der Sache mit den sieben Zwergen.“

VI

Es hat verschiedentlich Untersuchungen zur Sprache der Kunstkritik gegeben. In den meisten Fällen handelt es sich um Reflexionen und sprachphilosophische Überlegungen. Im Vordergrund steht das Verhältnis von Kunstwerk, Künstler, Kritiker und Öffentlichkeit. Weniger untersucht wurde das Verhältnis von Kurator, Ausstellung und Öffentlichkeit im Zusammenhang mit inszenierten Großausstellungen. Dabei ergeben sich zuweilen, wie die documenta IX und X zeigen, dramatische Veränderungen. Allerdings spricht manches dafür, dass es 1997 die besondere Konstellation mit einer Frau an der documenta-Spitze war, die dazu führte, dass die Kritiker sich mit besonderer Intensität mit der Ausstellungsmacherin beschäftigten und dabei so erfindungsreich bei Bildvergleichen waren, als hätten sie an einem Poetik-Wettbewerb teilgenommen.

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