documenta 6 (1977)

Aus: Meilensteine: 50 Jahre documenta (2005)

Zum zweiten Mal geriet der Vier-Jahres-Rhythmus der documenta ins Wanken. Der Streit um Konzepte und Personen sowie Bodes letzte Versuche, auf die Planung Einfluss zu nehmen, führten zu einer Verschiebung um ein Jahr auf 1977. Nachdem Karl Ruhrberg und Wieland Schmied den Planungsauftrag zurückgegeben hatten, wurde Manfred Schneckenburger (Jahrgang 1938) zum ein künstlerischen Leiter gekürt. Schneckenburger, damals Direktor der Kölner Kunsthalle, hatte mit der Ausstellung „Projekt 74“ Beachtung gefunden. Zusammen mit Lothar Romain entwickelte Schneckenburger das Konzept für eine Medien-documenta, in der die Werke auch nach Medien getrennt (Malerei, Skulptur, Fotografie, Video, Zeichnung, Künstlerbuch, Utopisches Design und Performance) präsentiert wurden.
Vor allem um die Malerei gab es viel Streit. Die Künstler- und Bildauswahl wurde ebenso kritisiert wie die Hängung. Auch wollten sich manche nicht damit abfinden, dass die Spitzenkünstler der DDR mit dabei waren. Für Ärger sorgten Richard Serras rostendes Stahl-Terminal auf dem Friedrichsplatz und der Bohrturm, mit dessen Hilfe der Erdkilometer von Walter de Maria in die Erde gebracht wurde. Trotz aller Einwände leistete die documenta 6 Nachhaltiges: Durch ihre Abteilung historischer und aktueller Fotografie trug sie zur Durchsetzung der Fotokunst bei. Auch etablierte sie die Performance als künstlerisches Medium. Und sie wurde publikumswirksam dadurch, dass sie mit Landschaftsprojekten den Auepark eroberte. Die Künstlerbücher und die Videos kamen in der Wahrnehmung meist zu kurz.

1400 Werke von 492 Künstlern. 355000 Besucher. Etat: 4,807 Mio. Mark. Erlöse und Spenden: 2,435 Mio. Mark. Zuschüsse: 2,372 Mio. Mark. Orte: Museum Fridericianum, Neue Galerie, Orangerie und Karlsaue.

Beispielhafte Werke aus: Texte zum documenta-mobil (2005)

Horst H. Baumann (*1934): Laser-Environment (1977)

Laserstrahlen, auch als Lichtskulpturen, gehören heute fast zum Alltag. Der 1977 vorgestellte Plan, über der Kasseler Innenstadt ein Laser-Environment herzustellen und den Zwehrenturm am Fridericianum mit der Orangerie, der Insel Siebenbergen und dem Herkules zu verbinden, war für damalige Verhältnisse kühn. Die über der Stadt liegende Lichtzeichnung aus je einem roten, blauen und grünen Strahl war ein Gegenpol zu dem in den Boden versenkten Erdkilometer. Die Stadtarchitektur wurde durch diese Skulptur neu interpretiert. Mit Hilfe von Spendengeldern wurde der Laser für Kassel angekauft. Nachdem die Geräte aus dem Zwehrenturm gestohlen worden waren, wurde später die Anlage rekonstruiert.

Ulrike Rosenbach (*1943): Herakles-Herkules-King Kong, Video-Installation (1977)

Die documenta 6 besaß eine Video-Abteilung. Allerdings wurden die Bänder nur in einer Videothek abgespielt. Richtig wahrgenommen wurden nur die ständig laufenden Video-Installationen. Ulrike Rosenbach setzte sich in ihrer Arbeit mit den Männerbildern auseinander. Unter der Dachschräge war eine Großprojektion des Kasseler Herkules zu sehen. Unter seinem linken Arm war ein Monitor eingeklemmt, der das Bild eines Frauengesichtes zeigte, das beschwörend das Wort „Frau“ hauchte. Wie verloren kämpfte die Video-Projektion gegen den übergroßen Helden an. Auf der Wand daneben setze sich in Bildreihen und einem weiteren Monitor die Auseinandersetzung mit den Kraftprotzen sowie den Frauen fort.

Anatol (*1931): Das Traumschiff (1977)

Der Beuys-Schüler Anatol war ein Polizist, der mit spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam machte. Bewusst setzte er sich von der Ideenkunst ab und bekannte sich zu einem Kunstbegriff, der die handwerkliche Arbeit voraussetzt. In Anlehnung an Beuys hatte er eine Freie Akademie Oldenburg gegründet, in der er mit anderen aus Polyester ein Traumschiff entwarf. Das Boot hatte genau die Form eines von Kindern gefalteten Papierschiffchens. Auf ihm fuhren Anatol und seine Freunde die Weser und Fulda aufwärts, um es auf dem Grün der Karlswiese landen zu lassen. Da, wo kein Wasser war, wurde es wahrhaft zum Traumschiff, das die Kinder gern stürmten. Eine Kasseler Schule erhielt später das Schiff zum Geschenk.

Hans Peter Reuter (*1942): Documenta-Raumobjekt, Kacheln und Ölbild (1977)

Die große Illusion. Im ersten Stock des Fridericianums öffnete sich ein leicht gerundeter Gang, in dem blaue Kacheln leuchteten. Boden, Wände und Decke waren gleichmäßig gekachelt. Man glaubte, in ein Schwimmbad geraten zu sein. Am Ende des Ganges führten Stufen zu einem weiteren Kachelraum, aus dem das Licht zu kommen schien. Aber dieser zweite Raum existierte nicht. Er war illusionistisch gemalt. Reuter malte mit großer Besessenheit Kachelräume, wobei er durch das Spiel mit den Spiegelungen allmählich die Raumdarstellung aus dem Blick verlor, um sich auf die Malerei, die Veränderungen der Farben im Licht, zu konzentrieren. Bei dem Documenta-Raumobjekt stand die Kraft der Illusion im Vordergrund.

Haus-Rucker-Co: Rahmenbau, Stahl (1977)

So stark wie die Ausstellung von 1977 hatte zuvor keine documenta in die Stadt eingegriffen. Die 1967 gegründete Arbeitsgruppe Haus-Rucker-Co hatte am Rande des Friedrichsplatzes eine begehbare Metallrahmen-Konstruktion aufgestellt. Die Straße in der Verlängerung des Hanges heißt Schöne Aussicht. Auf die schöne Aussicht weist auch der Bau (wie ein Sucher einer Kamera) hin. Er lenkt den Blick auf das Tal, die darin stehende Orangerie und holt auch die dahinter liegende Industrielandschaft heran. Geht man über den Brückensteg nach vorn, schaut man durch einen davor hängenden kleineren Rahmen, der den Blickwinkel wie ein Zoom verengt. Mit Hilfe einer Spende wurde der Rahmen angekauft.

Walter de Maria (*1935): Der vertikale Erdkilometer, Messing (1977)

Das soll Kunst sein? Wochenlang stand mitten auf dem Friedrichsplatz ein Bohrturm innerhalb eines Bauzaunes. Der Anblick wie der Lärm ließen die Wogen der Empörung hochgehen. Der amerikanische Konzept- und Land-Art-Künstler Walter de Maria zog allen Ärger über die zeitgenössische Kunst auf sich. Als das Werk endlich fertig war, entstand eine merkwürdige Ruhe. Man sah nur noch eine runde Messingscheibe inmitten einer Sandsteinplatte. Jetzt erst begann sich das Kunstwerk zu entfalten: Der real in den Boden versenkte Erdkilometer war das bis dahin größte documenta-Projekt, doch er war nicht mehr zu sehen. Je länger man über ihn nachdachte, desto stärker bildete er sich vor dem inneren Auge ab.

Hubertus Gojowczyk (*1943): Tür zur Bibliothek, Bücher und Zeitschriften mit Feinputz und Holz (1977)

Der Ruf der documenta 6 war nicht der beste. Aber sie bot eine Fülle hervorragender Arbeiten. Eine der schönsten Abteilungen war von vielen übersehen worden. In ihr wurden im 1. Stock der Neuen Galerie Künstlerbücher und Buchobjekte gezeigt. Hubertus Gojowczyk hatte dazu eine ebenso so schöne wie hintersinnige Einstimmung gebaut: Auf dem Treppenabsatz der Neuen Galerie hatte er einen Eingang zu einer mutmaßlichen Bibliothek geschaffen. Die Bibliothek existierte allerdings nur in der Ansammlung von Zeitschriften und Büchern, mit denen er den Zugang unwiderruflich zugemauert hatte. Die Bibliothek war also doppelt geschlossen – als möglicher Raum und als die sichtbare, aber nicht lesbare Bücherwand.

Willi Sitte (*1921): Sauna in Wolgograd, Ölbild (1973)

Als die ersten documenten organisiert wurden, lag Kassel unmittelbar an der Grenze zu Ostdeutschland (DDR). Die Ausstellungen waren deshalb auch als ein Manifest gegen den Sozialistischen Realismus verstanden worden. In den 70er-Jahren aber gab es Auflösungserscheinungen in dieser Staatskunst. Die documenta 6 wollte dies dokumentieren. Erstmals wurden DDR-Künstler nach Kassel eingeladen. Das führte zu Protesten. Georg Baselitz und Markus Lüpertz zogen ihre Werke zurück. Die Bilder von Willi Sitte standen am ehesten für das, was man sich unter dem Sozialistischen Realismus vorstellte. Gleichwohl verriet seine an Lovis Corinth geschulte Kunst eine hohe Malkultur.

Abteilung Fotografie

Der Streit, ob Fotografie Kunst sein könne, wurde mit großer Heftigkeit bis in die 70er-Jahre in Deutschland geführt. Klaus Honnef hat entschieden dazu beigetragen, der Fotografie innerhalb der Kunst einen festen Platz zuzuweisen. Die als Medien-documenta propagierte Ausstellung von 1977 nutzten er und Evelyn Weiss, um erst einmal das Bewusstsein für die Fotokunst zu schärfen. Sie breiteten ein Panorama von 150 Jahren Fotogeschichte aus und machten damit wichtige Bilder erstmals dem Kunstpublikum zugänglich. Alle späteren Ausstellungen konnten darauf aufbauen. Wenig geglückt und schlecht platziert war allerdings die kleine Sonderschau aktueller künstlerischer Fotografie.

Extra: Streit um Wände und Bilder (HNA, 25. 6. 1977)

Es sollte ein Paukenschlag sein, noch lauter als der, den Wieland Schmied und Prof. Herzog wegen des Zustandes der Orangerie hatten ertönen lassen: Evelyn Weiss und Klaus Honnef, verantwortlich für die Abteilungen Malerei und Fotografie auf der documenta 6, legten gestern, am Eröffnungstag der 100-Tage-Kunstschau, um 9 Uhr ihre Arbeit nieder.
Auf einer eilends am Nachmittag improvisierten Pressekonferenz nannten Evelyn Weiss und Klaus Honnef zwei Gründe: „Eine in der Nacht zum 24. Juni begonnene, von Kunst-händlern erzwungene Umhängeaktion in ihrer Abwesenheit und ohne ihre Kenntnis in der Abteilung Malerei, sowie die Tatsache, dass trotz wiederholter Zusicherungen für mindestens 18 eingeladene Künstler die räumlichen Voraussetzungen zur Ausstellung ihrer Arbeiten in der Neuen Galerie Kassel bis zum Eröffnungstag nicht geschaffen worden sind…“
Die Pressekonferenz, zu der auch Manfred Schneckenburger, der künstlerische Leiter der documenta, hinzukam, wurde genau zu dem Spiegelbild des Chaos, in der sich seit vorgestern nacht die Abteilung Malerei befand oder noch befindet.
Am eindeutigsten war für die Journalisten auszumachen, dass die in die Neue Galerie ausgelagerte Unterabteilung künstlerische Fotografie (mit 18 Künstlern) gestern für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war, weil die Räume im Kellergeschoß noch nicht für die Ausstellungssituation hergerichtet waren.
Undurchdringlich allerdings wurde das Gestrüpp von Behauptungen, Verdächtigungen und Gegenbehauptungen, als es darum ging, zu klären, was sich seit Donnerstagabend im Museum Fridericianum getan hatte und wer informiert oder verantwortlich war. Versucht man eine Chronologie herauszudestillieren, ergibt sich folgendes Bild:
Nachdem die Ausstellungsleitung dem Wunsch des Malers Louis Cane entsprochen hatte, ihm für sein Bild einen neuen Hängeplatz zu suchen, meldete ein weiterer Maler, Gerhard Richter, Protest gegen die Präsentation seiner Arbeiten an: Er wolle seine Bilder nicht von dem großen Objekt-Bild von Frank Stella erdrücken lassen. Richter verlangte einen bestimmten Platz an dem jedoch andere Bilder hingen, oder drohte mit dem Rückzug aus der Ausstellung.
Was danach geschah, kann nur erahnt werden: Schneckenburger wie auch Weiss/Honnef sagten Richter eine Absprache und Lösung des Problems zu, doch warteten die verschiede-nen Gesprächspartner vergeblich auf einen gemeinsamen (angeblich verabredeten) Termin. Tatsache ist, dass Richter bis gestern morgen seine Bilder abnahm und am Vormittag abtransportieren ließ. Gleichzeitig wurden auch andere Künstler und deren Galeristen aktiv. So wurden Warhols Bilder ebenso umgehängt wie Nancy Graves’ Arbeiten. Die Verantwortlichen wussten von nichts.
In ihrer Presseerklärung gingen Evelyn Weiss und Klaus Honnef davon aus, dass Manfred Schneckenburger zumindest den ersten Teil der Nacht- und Nebelaktion inszeniert oder zumindest geschützt habe. Dieser bestritt das heftig.
Nur wurde im Verlaufe der manchmal scharfen Auseinandersetzung der Kontrahenten deutlich, dass genau das zutraf, was Honnef mehrfach in Abrede stellte – dass der Streit um die gestrige Situation schon seit langem vorhandene Fronten sichtbar machte. Seit Monaten nämlich rangen Weiss/Honnef und Schneckenburger um die Platzzuweisung für Malerei und Fotografie. Während Weiss/ Honnef behaupten, sie hätten für ihre Abteilungen weniger Platz bekommen, als vereinbart worden sei, und sie hätten deshalb die Malerei um ein Drittel und die Fotografie um ein Fünftel reduzieren und noch aufteilen müssen, vertrat Schneckenburger die Ansicht, das Team habe genau die Raumverhältnisse gekannt, sei nur ins Schleudern geraten, weil es insbesondere in der Fotografie zuviel habe ausstellen wollen.
Nachgedruckt in: Meilensteine: 50 Jahre documenta

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