documenta 8 (1987)

Aus: Meilensteine: 50 Jahre documenta (2005)

Zum dritten Mal ging die Vorbereitung einer documenta mit dem auserkorenen Team schief, zum zweiten Mal musste Manfred Schneckenburger (Jahrgang 1938) als Ersatzmann einspringen. In einem aufwändigen Auswahlverfahren war der Holländer Edi de Wilde zum documenta-Chef gekürt worden. Aber man traute ihm nicht genug zu und stellte ihm seinen Freund Harald Szeemann an die Seite. Doch das Duo scheiterte.
Der im Eilverfahren ausgeguckte Schneckenburger verzichtete im Gegensatz zu 1977 auf ein Theoriekonzept. Nachdem Rudi Fuchs fünf Jahre zuvor auf die autonome Kunst gesetzt hatte, legte Schneckenburger das Schwergewicht auf die Kunst, die sich kritisch in die Gesellschaft einmischt und die in die Stadtstruktur eingreift. Hans Haackes Installation im Erdgeschoss des Fridericianums, in der er das geschäftliche Engagement von Deutscher Bank und Mercedes trotz der Rassentrennungspolitik in Südafrika anklagte, wurde zum Symbol dafür. Auch Skulpturen im öffentlichen Raum verfolgten diese Linie. Zum Ereignis der documenta 8 wurden die großen Video-Installationen von Nam June Paik, Marie-Jo Lafontaine und Fabrizio Plessi, während die Malerei-Beiträge enttäuschten. Wichtige Impulse gingen von den Performances und Zusammenspiel von Kunst und Design aus.

Rund 240 Künstler. 468000 Besucher. Etat: 10,195 Mio. Mark. Erlöse und Spenden: 4,738 Mio. Mark. Zuschüsse: 5,457 Mio. Mark (davon 910000 Mark zur Defizit-Deckung). Orte: Museum Fridericianum, Orangerie, Karlsaue, Stadtraum und Renthof.

Beispielhafte Werke aus: Texte zum documenta-mobil (2005)

Anselm Kiefer (*1945): Osiris und Isis, Mischtechnik (1985-87)

Eine der herausragenden Arbeiten der documenta 8 war das Gemälde „Osiris und Isis“ von Anselm Kiefer, dessen Titel sich auf ägyptische Gottheiten bezieht. In seinen Bildern verarbeitet Kiefer Mythen der Geschichte. Hier sieht man einen stufigen monumentalen Bau, der an eine Pyramide erinnert. Dort, wo die Spitze sein müsste, ist in die Malschicht eine Computer-Schalttafel eingelassen, von der aus Kupferdrähte zu den Porzellanscherben führen. Diese Scherben sind nicht nur Zeugen einer Zerstörung, sondern auch Isolatoren für die durch die Drähte geleiteten Energien. Kiefer erweiterte seine Malerei zum reliefartigen Materialbild, das vielfältige Bezüge zwischen Geschichte und Gegenwart herstellte.

Tadashi Kawamata (*1953): Destroyed Church Projekt, Holz (1987)

Noch stärker als in den Jahren zuvor ließen sich documenta-Künstler auf Projekte in der Stadt ein. Der Japaner Tadashi Kawamata entdeckte für sich die verwahrloste Ruine der Garnisonkirche, die eine der wenigen Zeugen der Weltkriegszerstörungen in der Innenstadt war. Kawamata sammelte in Kassel und Umgebung Bauholz. Mit den Brettern und Stangen baute er eine spiralförmige Konstruktion, die um das Ruinengebäude herum in das Innere führte. Eine Leerstelle im Zentrum Kassels erwachte plötzlich zum Leben. Kawamata gab dem Bau eine vitale Struktur. Die Holzkonstruktion glich einem Wirbel, der sogartig die Teile mitreißt. So entstand in der Starre Bewegung.

Hans Hollein (*1934): Museumsraum documenta, Environment (1987)

Die documenta 8 fragte auch nach Entwürfen für das ideale Museum. Der österreichische Architekt und Künstler Hans Hollein entwarf das Gegenbild – ein Museum der ernüchternden Wirklichkeit. In ihm waren die Dinge auf den Kopf gestellt: Die Erläuterungstafeln hatten die Größe von Gemälden, die Kunstwerke selbst waren aber nur so groß wie die Erläuterungstafeln. Hollein entlarvte damit unser Verhalten im Museum: Das eigentliche Werk wird kurz erfasst, damit dann der Blick auf die Erläuterungstafel geht. Haben wir sie gelesen, glauben wir oft, das Werk erfasst und verstanden zu haben. Drastischer und heiterer hätte uns dieses Fehlverhalten kaum vorgeführt werden können.

Lili Fischer (*1947): Waschlappendemo, Performance (1987)

Zum zweiten Mal nach 1977 gehörte zur documenta ein umfangreiches Aktions- und Performance-Programm. Die Hamburgerin Lili Fischer hatte sich als eine Künstlerin profiliert, die an alte Riten und Techniken in der Hausarbeit anknüpfte und die auf die magische Wirkung von Heilkräutern und Beschwörung setzte. Sie holte die vergessenen Weisheiten und verschütteten Wunderrezepte ins Bewusstsein zurück, wandte sie an und stellte sie spielerisch in Frage, um dabei Alltägliches und Künstlerisches zu parodieren. Bei der Waschlappendemo wurde das Publikum kräftig einbezogen. Die Performance amüsierte und bescherte wundersame Einsichten.

Hans Haacke (*1936): Kontinuität, Mixed Media (1987)

In der Rotunde des Fridericianums herrschte die Atmosphäre wie in der Eingangshalle zu einem großen Unternehmen: Grünschmuck und vornehme Informationstafeln. In der Mitte war das zum Objekt vergrößerte Logo der Deutschen Bank zu sehen, über dem der Mercedes-Stern leuchtete. Hinter dem schrägen Balken im Bank-Logo war das Foto von einem Beerdigungszug Schwarzer in Südafrika zu sehen. Hans Haacke hatte diese Installation vor dem Hintergrund der anhaltenden Unterdrückung der Schwarzen (Apartheid) in Südafrika geschaffen. Er erinnerte daran, dass Mercedes und Deutsche Bank sich nicht an die Boykott-Aufrufe gegen Südafrika gehalten hatten und damit, wie er meinte, an den Opfern mitschuldig seien.

Barbara Kruger (*1945): Endangered Species, Foto, Leinwand, Vinyl (1987)

Man sieht ausschnitthaft drei angsterfüllte Gesichter. Sie blicken einer drohenden Gefahr entgegen. Darüber steht der Schriftzug „Endangered species“ (gefährdete Arten). Die amerikanische Künstler Barbara Kruger, die seit 1972 mit Bild-Text-Montagen aus Werbefotos, der Militärsprache oder Pop-Welt arbeitet, hat bevorzugt Bilder geschaffen, die wie Plakate aussehen und unmittelbar ansprechen. So direkt die Wirkung auf den Betrachter ist, so unmittelbar ist ihre Aufforderung, über die Zusammenhänge nachzudenken, denn die Menschen sind auf vielfältige Weise gefährdet.

George Trakas (*1944): Union Place , Holz, Stahl (1987)

Der Kanadier George Trakas hatte 1977 eine der besten Außenskulpturen konstruiert: Zwei sich kreuzende Stege, von denen der eine neue Achse gegen die barocke Parkarchitektur in der Karlsaue durchsetzte. Für 1987 hatte sich Trakas den Königsplatz vorgenommen, den er durch Stege, Brücken, Podeste und Stelen zu einem Erlebnisraum umgestalten wollte. Seine Hochbrücke über die Straßenbahn-Trasse wurde tatsächlich zu einem Vorbild für die spätere, heiß umstrittene Treppe. Trakas arbeitete lange an dem Projekt, kam aber zu keiner schlüssigen Lösung und ließ es schließlich unvollendet liegen.

Scott Burton (*1939): Ottomane, Marmor, Bambus (1987)

Folgte man der documenta 8, dann wurden die Übergänge zwischen zweckfreier Kunst, funktionalem Design und Architektur immer fließender. Der amerikanische Künstler Scott Burton war ein gutes Beispiel dafür. Er hatte mit Performance-Reihen begonnen und war dann dazu übergegangen, möbelähnliche Skulpturen zu entwerfen. Seit 1980 schließlich beschäftigte er sich mit der Gestaltung öffentlicher Plätze. Für die documenta ließ er im Zentrum der Karlswiese eine runde Sitzbank erbauen, in deren Mitte üppige Bambusbüsche wuchsen. Die gern zum Sonnen genutzte Wiese hatte plötzlich eine Mitte und eine Form. Und die exotischen Gewächse inmitten der Ruhebank ließen diesen Ort zur Trauminsel werden.

Komar (*1943) & Melamid (*1945): Yalta 1945 – Winter in Moskau 1977, Mischtechnik, 1986/87)

Die beiden Moskauer Künstler, die 1977 ihre Heimat verlassen hatten, waren Vorboten einer heiteren, parodistischen Kunst, die sich mit dem Sozialistischen Realismus ebenso auseinandersetzte wie mit den Spielarten der westlichen Kunst. Ihre in den Raum führenden Wände präsentierten Bilder, die von Bildern handeln. Indem sie die abstrakte und konkrete Malerei vorführten und mit den Mitteln der Pop-Art spielten, ließen sie erkennen, wie schnell diese Kunst rein dekorativ erscheinen kann. Gleichberechtigt setzten sie neben die Bildsprache der Avantgarde Motive aus der Welt des Kitsches. Eine souveräne Abrechung mit der Kunst jener Zeit.

Extra: Streit um Beuys(HNA, 18. 8. 1987)

„Eine solche Puppenstube hätte Joseph Beuys nicht gewollt.“ Auf diesen Satz spitzt Johannes Stüttgen, jahrelanger Assistent und Mitstreiter von Beuys, seine Kritik an der Art und Weise zu, wie in der Kasseler documenta 8 die Beuys-Installation „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ präsentiert wird. Die 39teilige Arbeit ist nach Stüttgen zu sehr nach überlieferten ästhetischen Gesichtspunkten arrangiert, so dass ihr der Biss genommen und Beuys gegen sich selbst ausgespielt werde.
Es hätte, so glaubt Stüttgen, nur eine Möglichkeit gegeben, diese letzte große Arbeit nach dem Tod des Düsseldorfer Künstlers zu zeigen: Man hätte alles – wie in einem Depot – nebeneinander hinlegen müssen, um den vorläufigen Charakter der Arbeit zu betonen. Beuys selbst hätte jede seiner Arbeiten streng auf den Ort bezogen; in dem Moment, in dem er sie aber auch noch an anderer Stelle präsentierte, habe er sie nie wieder installiert, sondern stets nur gelagert.
In zwei Veranstaltungen der von Beuys begründeten Freien Internationalen Universität (FIU) in Kassel hat Stüttgen am Wochenende diese Kritik formuliert und den Beuys-Raum in der documenta 8 als Verfälschung des Beuysschen Denkens bezeichnet.
Nun hatte documenta-Leiter Manfred Schneckenburger immer wieder damit geworben, dass hier im Museum Fridericianum erstmals dieses Beuys-Werk aus Bronze, Eisen und Aluminium in der vom Künstler gedachten Weise gezeigt werden könne. Die Fachkritik nahm diesen Raum auch als das große Ereignis der Kasseler Kunstschau auf. Liegt also ein Missverständinis vor?
Heiner Bastian, Berliner Kunstpublizist und ebenfalls enger Weggefährte von Beuys, zeichnet im Wesentlichen für die Kasseler Installation verantwortlich. Er hält Stüttgens Kritik für „vollkommen wahnsinnig“. Wie er gestern auf unsere telefonische Anfrage erklärte, entspreche die Anordnung der einzelnen Teile der Arbeit genau den Vorstellungen von Beuys: „Diese Inszenierung ist gar nicht meine Erfindung.“ Im Gegenteil: Er habe sie im November 1985 mit Beuys für die Londoner Ausstellung „Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert“ (in der Royal Academy“) gemeinsam entwickelt. Für Bastian wäre das bloße Hinlegen der Arbeit der eigentliche Verrat an Beuys: Die zentralen Teile des Werkes sind der keilförmige Blitzschlag aus dunkler Bronze und der (vom gedachten Lichtschein) bestrahlte Hirsch aus hellem Aluminium. Nur wenn der Blitzschlag auch, an einem Träger hängend, aufrecht im Raum stehe, werde, so Bastian, der „metaphorische Schatten auf den Hirsch“ sinnvoll.
In seinem Beitrag für den documenta-Katalog schreibt Bastian zu der Beuys-Installation:
„Der Mythos der Natur ist angehalten in Resten. Zu besichtigen ist der auf sie endlos einwirkende Geist der Vernichtung. Entstanden ist ein „Raum ohne Erinnerung, ein Raum, der sich zur Kälte neigt“ (J.B.). Im Werk von Joseph Beuys findet sich dergleichen nicht. Nirgendwo sonst ist die „Todesweihe“ (J.B.) eindringlicher ohne jede hieratische Prophetie in einer großen Skulptur verwirklicht worden. Hier hat jemand einen Mythos zu Ende gedacht…“
Wenn Stüttgen nun meint, das Werk werde ausschließlich auf das verhärtete Material festgelegt, so dass der lebendige Charakter im Schaffen von Beuys und dessen Freiheitsidee verloren gingen, dann wird sichtbar, dass sich der Streit auch an der Interpretation des „Blitzschlages“ entzündet. Wo Bastian eine neue Ebene erreicht sieht, verwahrt sich Stüttgen dagegen, es habe eine Wende im Denken von Beuys gegeben. Der Künstler, der stets die Idee einer sozialen Plastik verfolgt habe, war nach Stüttgen auch mit dieser Skulptur noch nicht fertig.
Für diesen Streit und die künftige Bewertung von Joseph Beuys gilt wohl, was Bastian gestern meinte: Nach dem Tod dieses Künstlers, der so viele Mitarbeiter, Schüler und Jünger hatte, die sich auf ihn berufen, wird es immer wieder Kämpfe darum geben, wer den „richtigen Beuys“ vertritt.
Nachgedruckt in: Meilensteine: 50 Jahre documenta

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