Aus: Meilensteine: 50 Jahre documenta (2005)
Die documenta IX des Belgiers Jan Hoet (Jahrgang 1939) bedeutete den Höhe- und Endpunkt einer Ausstellungsentwicklung. Seit sich 1968 die documenta in den Stadtraum erweitert hatte, war sie zu einer Art Unterhaltungsmaschine geworden. Jan Hoet führte diesen Trend derart konsequent fort, dass viele Kritiker die Ausstellung und ihr Umfeld als Zirkus empfanden. Doch die Vielzahl starker Werke und der Besucherrekord gaben dem Belgier Recht. Mit der documenta IX erhielt die Ausstellung neben dem Museum Fridericianum ein zweites eigenes Gebäude die documenta-Halle. Deren Bau war beschlossen worden, nachdem die Orangerie dem Museum für Astronomie und Technikgeschichte übergeben worden war. Dazu erhielt Hoet für die Ausstellung in der Karlsaue provisorische Bauten. Zu einem Ereignis einmaliger Art wurde die Einbeziehung der Neuen Galerie. Während bei früheren documenten Teile der Museumssammlung ausgeräumt wurden, blieb jetzt die Struktur des Hauses unangetastet. Die Künstler, die einzogen, kommentierten mit ihren Werken das Museum und die Sammlung. Die documenta IX war eine Ausstellung der Emotionen. Zum Schlüsselwerk wurde die das Innere erschütternde Video-Installation von Bruce Nauman gleich in der Eingangshalle des Fridericianums. Um Bruce Nauman herum hatte Hoet die Ausstellung entwickelt. Es gab viel Widerständiges. In der Erinnerung der Öffentlichkeit setzten sich aber die eher liebenswerten Arbeiten fest wie Mo Edogas Signalturm der Hoffnung oder Borofskys Himmelsstürmer.
190 Künstler. 609000 Besucher. Etat: 15,66 Mio. Mark. Ausgaben 21,066 Mio. Mark. Zuschüsse: 6,561 Mio. Mark, Erlöse: 9,346 Mio. Mark, sonstige Einnahmen: 5,157 Mio. Mark. Orte: Museum Fridericianum, Neue Galerie, documenta-Halle, Ottoneum und Temporäre Bauten sowie Stadtraum.
Beispielhafte Werke aus: Texte zum documenta-mobil (2005)
Jonathan Borofsky (*1942): Man walking to the Sky, Stahl, Fiberglas (1992)
Die documenta IX hatte ihr Wahrzeichen und die Stadt ihr Gegenstück zum mythischen Herkules: Auf einem poliertem Stahlrohr marschiert ein Mann unbeirrt nach oben. Er geht so energisch, als könnte er endlos laufen. Dabei hat er zwei Drittel der Strecke hinter sich und das Ende vor Augen. Jonathan Borofsky sah diesen Mann durchaus doppeldeutig: Er könne wohl zum Himmel laufen, könne aber auch abstürzen. Die meisten Bewunderer der Skulptur wollten vom Absturz nichts wissen. Sie sahen den Himmelsstürmer, wie er bald hieß, nur auf dem Weg nach oben, als Hoffnungszeichen. Die Arbeit war so populär, dass sie mit Hilfe von Spenden und Zuschüssen angekauft wurde. Heute steht sie vor dem Kulturbahnhof in Kassel.
Bruce Nauman (*1941): Antro/Socio, Video-Installation (1992)
Beim Betreten des Museums Fridericianum hörte man klagende Rufe. Hatte man den Raum von Bruce Nauman erreicht, befand man sich inmitten von Monitoren und Großprojektionen. In allen Videobildern sah man den kahl rasierten Schädel (des Künstlers), der die Rufe Help me, hurt me, sociology, feed me, eat me, Anthropology ausstieß (Hilf mir, verletze mich, Soziologie, füttere mich, iss mich, Anthropology). Diese Rufe, halb klagend, halb befehlend, irritierten sehr. Nauman, der in vielen Arbeiten die menschliche Gewalt thematisiert hat, machte mit dieser Installation klar, dass alle Bemühungen der Wissenschaft, den Menschen zu ergründen (und zu verbessern), gescheitert seien: Die Gewalt lebt fort
Ilya Kabakov (*1933): Die Toilette, Environment (1992)
Ein Toilettenhaus auf dem Hinterhof des Fridericianums. Der Bau, so einfach und unansehnlich, wie er früher auf dem Lande in der Sowjetunion gebaut worden war. Natürlich gab es getrennte Eingänge für Männer und Frauen. Doch waren die Besucher in dem Gebäude, fanden sie sich in einem Gemeinschaftsraum wieder. Es gab zwar durch Seitenwände abgetrennte Plumpsklos, ansonsten befand man sich aber in einer fast normalen, komplett eingerichteten Zwei-Raum-Wohnung russischer Prägung. Die Arbeit des aus der Sowjetunion kommenden Künstlers führte auf wunderschöne Weise die sozialistische Wirklichkeit vor, in der einfache Leute so primitiv wie auf dem Klo lebten.
Mo Edoga: Signalturm der Hoffnung, Holz, Fundstücke (1992)
Wie 20 Jahre zuvor der Künstler Anatol sorgte 1992 der in Mannheim lebende Nigerianer Mo Edoga für die Rückbesinnung auf das Handwerkliche. Nicht das fertige Produkt war sein Ziel, sondern der Weg dahin. Der Künstler, der auch Mediziner ist, bringt der Industriewelt die Kräfte und Bilder zurück, die in der Natur Afrikas ihren Ursprung haben. Mo Edoga sammelte Schwemmholz und baute aus ihnen einen urwüchsigen Turm. Langsam und mit großer Sorgfalt verknüpfte er die Hölzer und verlieh damit der Konstruktion große Stabilität. Er demonstrierte, dass Leben und Handwerk eine Einheit bilden können. Seinen Turm, in den er zum Schluss auch reflektierende Flaschen hängte, vollendete er zum Ende der Ausstellung.
Joseph Kosuth (*1945): Passagen-Werk, Stoff mit Texten bedruckt (1992)
Die Neue Galerie ist ein Museum für die Kunst seit 1750. Regelmäßig stellt sich die Frage, ob sie von der documenta genutzt und dafür (teilweise) ausgeräumt werden soll. 1992 wählte man einen ungewöhnlichen Weg. Es wurden Künstler eingeladen, die bereit waren, sich mit der gezeigten Sammlung zu beschäftigen. Den schönsten Beitrag lieferte Joseph Kosuth. Er ließ zwei übereinander liegende Galeriegänge weiß beziehungsweise schwarz streichen und über alle Werke weiße bzw. schwarze Tücher hängen, die mit Texten aus Kunst, Philosophie und Politik bedruckt waren. Man sah keine Bilder und Skulpturen, registrierte aber deren Umrisse und die Schilder mit den Titeln. Der Besuch wurde zum Gedankenspaziergang.
Thomas Schütte (*1954): Die Fremden, Keramik, glasiert (1992)
Die menschliche Figur erlebte 1992 als Skulptur ihre Wiedergeburt. Während auf dem Friedrichsplatz Borofskys Mann auf dem Stahlrohr nach oben strebte, standen auf dem Portikus neben dem Fridericianum bunte Keramikfiguren mit allerlei Gepäckstücken. Es waren Fremde. Sie sahen aus, als wären sie nach einer langen Reise angekommen und würden demütig auf ein Zeichen warten, dass sie bleiben können. Thomas Schütte hatte damit ein Thema aus dem aktuellen politischen Streit aufgegriffen. Seine bunten unbewegten Keramikfiguren hatten etwas Märchenhaftes. Sie erinnerten an Holzspielzeug oder an die Puppen in der Puppe. Ein Teil der Figurengruppe konnte dank eines Stifters auf dem Portikus stehen bleiben.
Jan Fabre (*1958): Hand to listen (1992)
An mehreren Stellen in den Ausstellungsgebäuden traf man auf eine nachgebildete menschliche Hand, die ein blaues Glas an die Wand hielt. Der belgische Poet, Künstler und Regisseur Jan Fabre hatte in diesen kleinen Arbeiten eine Erfahrung aus seiner Jugend aufgegriffen: Um zu hören, was im Kinderzimmer passiert, hatte seine Mutter ihr Ohr an ein Glas gehalten, das sie an die Wand gedrückt hatte. In der documenta befanden sich die Handobjekte an Außenwänden. Das heißt: Jan Fabre stellte auch den Außenbezug her als gelte es zu erlauschen, was draußen in der Wirklichkeit passierte. Damit erhob er den Anspruch, die Trennung zwischen Innen (Kunst) und Außen (Wirklichkeit) zu überwinden.
Flatz (*1952): Bodycheck, Sandsäcke, Leder (1992)
Der Aktionskünstler Flatz fordert die Besucher heraus. Immer wieder entwickelt er Arbeiten, in denen er sie verleitet, selbst gewalttätig zu werden. Zur documenta IX hatte er in einen Raum dichte Reihen von mit Sand gefüllten Ledersäcken gehängt, so wie sie zum Boxtraining genutzt werden. Die Besucher mussten hindurchgehen, wenn sie die dahinter installierte Arbeit eines anderen Künstlers sehen wollten. Wenn man sich vorsichtig zwischen den Säcken hindurchwand, konnte man fast ohne Berührung passieren. Die meisten Besucher aber fühlten sich herausgefordert. Sie stießen die Säcke mit Kraft beiseite und versetzten so ganze Reihen in Schwingungen und brachten andere Besucher in Bedrängnis.
Guillaume Bijl (*1946): The History of Documenta, Wachsmuseum (1992)
Ein Künstler macht die Geschichte der Ausstellung, zu der er eingeladen ist, zum Thema. In drei Schaufenstern eines Kaufhauses am Friedrichsplatz zeigte Guillaume Bijl als Wachsfigurenkabinett den documenta-Gründer Arnold Bode und seine Frau, den zur Leitfigur gewordenen Künstler Joseph Beuys und den aktuellen Ausstellungsmacher Jan Hoet. Der Sinn war doppeldeutig. Auf der einen Seite verstand sich der Beitrag als eine Verklärung, auf der anderen Seite ironisierte er den Mythos. Jeder Figur war ein Symbol zugeordnet. Zu den Bodes gehörte eine abstrakte Skulptur, bei Beuys sah man eine Fettecke und Hoet wurde von einem Schwan begleitet, denn seine documenta fand im Zechen der Schwäne (als Logo) statt.
Extra: documenta-Marathon in Weimar (HNA,15. 4. 1991)
Geschlossene Gesellschaft
Es war eine große Vision: Jetzt, da die Grenze mitten durch Deutschland gefallen ist, sollten die Ostdeutschen ganz unmittelbar am Diskussionsprozess der ihnen lange Zeit unzugänglichen internationalen Kunst teilhaben können. Also hatte der künstlerische Leiter der documenta 9 (1992), der Belgier Jan Hoet, zu einem zweiten Gesprächsmarathon über die Kasseler Weltkunstschau für dieses Wochenende in die Klassikerstadt Weimar eingeladen.
Doch dort waren die vornehmlich aus Kassel, anderen Teilen Westdeutschlands und Belgien angereisten Kunstjünger weitgehend unter sich. Der documenta-Tross blieb eine geschlossene Gesellschaft. Die Klassiker- und Bauhaus-Stadt wurde lediglich für die documenta-Zwecke benutzt. Der erhoffte und vielleicht auch dringend erforderliche Austausch fand nicht statt.
Sichtbar wurde dieses Ausbleiben der ostdeutschen Kunstinteressenten an den vielen leeren Stuhlreihen in der Weimarhalle. Statt der erwarteten 2000 Teilnehmer am 24stündigen Gesprächsmarathon waren bestenfalls 600 gekommen. Da außerdem die in den 30er Jahren erbaute Stadthalle nicht annähernd die Atmosphäre schaffen konnte, die wenigstens beim ersten Marathon vor über einem Jahr in Hoets Genfer Museum zu spüren gewesen war, entstand hier nun eine Enttäuschung anderer Art. Der viel beschworene Geist des 1919 in Weimar von Walter Gropius gegründeten Bauhauses, der Hoet ja auch in die Goethestadt gelockt hatte, mag an verschiedenen Bauwerken und Dokumenten in Weimar noch auszuma-chen sein, in die Weimarhalle aber fand er nicht.
Dafür konnten die Marathon-Teilnehmer ein Stück ostdeutsch-brüchiger Wirklichkeit erfahren: Als ein Zeichen für die überall noch sichtbare Präsenz der sowjetischen Militärmacht in der ehemaligen DDR und zugleich als ein Signal für die veränderten politischen Bedingungen hatte das documenta-Team zur musikalischen Umrahmung unter anderem eine sowjetische Militärkapelle eingeladen. Die spielte denn auch brav und später sogar schunkelnd internatiolnale Märsche unter dem riesigen documenta-Signet mit den beiden Schwänen. Eine Konstellation, die wahrscheinlich auch nur in den Augen der aus dem Westen kommenden Kunsttouristen kurios erschien.
Überhaupt führten die in das Vertrags- und Diskussionsprogramm eingeschobenen Unterhaltungsblöcke (darunter Konzerte der Franz-Liszt-Hochschule) dazu, dass man in Weimar sehr schleppend zur Sache kam. Im Zentrum der bis zum gestrigen Abend andauernden Veranstaltung standen wiederum die Berichte von Jan Hoet und seinem Team über die Erkundungen der Kunst in aller Welt, illustriert durch Hunderte von (manchmal unzulänglichen) Dias. Während Hoet vor einem Jahr in Gent aber bewusst seine Zuhörer in die unüberschaubare Überfülle der Kunstszene hineingezogen hatte, um anschaulich zu machen, wie viele unterschiedliche Ausstellungen denkbar wären, hatten jetzt die Reisen durch die Bilderwelt eine Struktur: Vor allem ließ Hoet erkennen, wo er sich schon entschieden hat, wo er noch überlegt und welche Formen von Kunst für ihn gar nicht zur Diskussion stehen.
Zu einer Bereicherung des Abends wurde Hoets Befragung seiner drei Vorgänger im Amt des künstlerischen Leiters – Harald Szeemann (1972), Manfred Schneckenburger (1977 und 1987) und Rudi Fuchs (1982). Die drei berichteten von ihren documenta-Visionen und Ausstellungskonzepten, und man konnte den Eindruck gewinnen, als wäre jedes mal der ursprüngliche Traum weitgehend realisiert worden. Die Konflikte und zum Teil vernichtenden Urteile übereinander blieben bei dieser nostalgischen Rückschau ausgespart.
Allerdings brachte Rudi Fuchs eine kritische Anmerkung ins Spiel, die direkt auf Hoets Konzept, soweit es sichtbar ist, zielte: Es würde Zeit, so Fuchs, einmal eine Ausstellung zu machen, in der die jüngeren Künstler unter sich wären und sich nicht immer wieder an den immer gleichen Ober-Künstlern messen lassen müssten. Schneckenburger setzte eins drauf, indem er meinte, Ausstellungsmacher jenseits der 50 (zu denen auch Hoet gehört), hätten nicht den gleichen spontanen Zugang zur aktuellen Szene wie sehr viel jüngere.
Mit Vehemenz widersprachen Szeemann und Hoet diesem Gedanken. Sie wiesen nicht nur nach, dass auch ältere Künstler – wie der Italiener Mario Merz – ungeheuer jung und dynamisch sein könnten, sondern bekannten sich auch nachdrücklich dazu, neue Namen und Werke mit den großen, immer noch fortwirkenden Positionen zu konfrontieren.
Nachgedruckt in: Meilensteine: 50 Jahre documenta