documenta X (Kurzprofil)

Aus: Meilensteine: 50 Jahre documenta (2005)

Die erste Frau an der Spitze der documenta, dazu eine, die nicht als Favoritin gegolten hatte und die sich als selbstbewusst bis zur Arroganz erwies. Die Entscheidung für die Französin Catherine David (Jahrgang 1954), die zuvor die Pariser Kunsthalle Jeu de Paume geleitet hatte, forderte Kritik und Streit heraus. Die Kritik verschärfte sich, als das Konzept sichtbar wurde, das eine Abkehr vom normalen Ausstellungsrummel verhieß. Catherine David kehrte zu den Wurzeln der aktuellen Kunst zurück, bot den politisch-kritischen Künstlern eine Plattform und lenkte den Blick erstmals auf die weltweite Kulturdiskussion.
Allerdings war sie der Meinung, dass nicht überall ausstellungswürdige Kunst produziert werde. Deshalb schuf sie neben der Ausstellung eine zweite Ebene: Die Vortrags- und Diskussionsreihe „100 Tage – 100 Gäste“ wurde zu einem lebendigen Forum. Dort trat auch Okwui Enwezor als Referent auf, der die Documenta 11 leitete. Die documenta X wurde außerdem durch ein beachtliches Filmprogramm ergänzt. Die globale Ausrichtung und die starke Gewichtung der kritischen Kunst machte die documenta X zu einer Vorläuferin der Ausstellung von 2002. Die Malerei spielte eine untergeordnete Rolle, dafür traten die dokumentarische Fotografie und die Videokunst stark in den Vordergrund. Das Vorurteil, Catherine David serviere eine spröde und trockne Ausstellung, hielt sich auch dann noch, als die documenta X als ein sinnliches Ereignis zu erleben war.

Knapp 120 Künstler, 631000 Besucher. Etat: 25 Mio. Mark. Erlöse: 11,5 Mio. Mark, Zuschüsse: 11,5 Mio. Mark. Zuwendungen: 2,0 Mio. Mark. Orte: Museum Fridericianum, documenta-Halle, Ottoneum und Kulturbahnhof.

Beispielhafte Werke aus: Texte zum documenta-mobil (2005)

Peter Kogler (*1959): documenta X, Tapete (1997)

Alle wichtigen Veröffentlichungen zur documenta X enthalten an prominenter Stelle ein Bild, das einen Blick in den oberen Teil der documenta-Halle zeigt. Die Decke und die Wände der Halle hatte der Österreicher Peter Kogler mit einer Tapete überklebt, die als Dekor ein unendliches System sich gegenseitig umschlingender Röhren enthielt. Schon in der documenta IX war Kogler mit einem Tapetenraum vertreten. Doch die Ameisentapete war weder so faszinierend noch so prägend gewesen wie das Röhrensystem, das signalisierte, dass die documenta-Halle als ein großes Kommunikationszentrum funktionierte. Koglers Tapete setzte die Malerei mit anderen Mitteln fort. Das Dekor hatte er am Computer entwickelt.

William Kentridge (*1955): Felix in Exile, Videoprojektion (1994)

Die documenta von 1997 konfrontierte die Besucher mit zahlreichen Videoprojektionen und Filmen. Eine Ausnahme unter den Videos bildeten die Arbeiten des Südafrikaners William Kentridge, der sich als großartiges Zeichengenie vorstellte. Kentridge ist ein Geschichtenerzähler. Er zeichnet keine Abfolge von Bildern, sondern scheint aus der Tiefe eines Motivs alle weiteren herauszuholen. Es sind surreal angelegte Zeichnungen, in denen sich aus Wassertropfen Pfützen und Seen entwickeln, aus denen Schwimmer auftauchen und auf denen Schiffe fahren. Der heitere Ton lockte die Besucher an, die, wenn sie sich länger darauf einließen, feststellen mussten, dass ihnen bittere Wahrheiten vorgesetzt wurden.

Penny Yassour (*1950): Mental Maps, Kautschuck und Silikon (1996/97)

Israelische Künstler haben immer wieder die Auseinandersetzung mit der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten gesucht. Auch Penny Yassour hatte sich diesem Thema zugewandt: Das Zentrum ihres Raumes bildeten eine an der Wand hängende Landkarte, die als Abdruck das deutsche Eisenbahnnetz von 1938 zeigte. Ein daneben hängender Abdruck präsentierte das Liniennetz spiegelverkehrt. Das Eisenbahnnetz, das gemeinhin als Ausdruck des Fortschritts galt, wurde unter den Nationalsozialisten zu einem System des Leidens: Auf dem Schienennetz wurden Millionen Juden deportiert und in Vernichtungslager gebracht. Penny Yassour erinnerte an diesen Schrecken mit schlichten Zeichen.

Gerhard Richter (*1932): Atlas, Fotos und Studien (1962-96)

Seit 1972 war der Maler Gerhard Richter regelmäßig zur documenta eingeladen worden. 1997 aber waren von Richter keine Gemälde zu sehen. Catherine David hatte stattdessen Richters Werkgruppe „Atlas“ nach Kassel geholt, eine riesige Sammlung von Fotos, Studien und Skizzen. Diese Auswahl hatte heftige Kritik hervorgerufen, weil viele darin einen weiteren Beweis für die Geringschätzung der Malerei sahen. Man konnte die Entscheidung auch positiv bewerten: Umfassender hätte Richter als Maler nicht gewürdigt werden können. Denn hier offenbarte er seinen künstlerischen Fundus. Allerdings setzte diese Würdigung die Kenntnis seines Werkes voraus.

Marcel Broodthaers (1924-1976): Section Publicité du Musee d’Art Moderne, Départment des Aigles, Mixed Media (1972)

Wann ist etwas Kunst? Seit Marcel Duchamp 1917 ein industriell gefertigtes Urinoir als Kunstwerk ausgestellt hatte, beunruhigt diese Frage die Öffentlichkeit. Der Belgier Marcel Broodthaers beschäftigte sich in seinem gesamten Werk mit dem Selbstverständnis von Kunst. In seinem Adlermuseum hatte er alle erreichbaren Bilder und Objekte mit einem Adlermotiv versammelt. Zu jedem Ausstellungsstück stellte er das Schild „Dies ist kein Kunstwerk“. Da diese Schilder auch vor Kunstobjekten standen, forderte er die Besucher heraus, über die Begriffsbestimmung nachzudenken. Das Adlermuseum war 1997 zum zweiten Mal in der documenta. 1972 war es erstmals in der Abteilung Künstlermuseen gezeigt worden.

Martin Kippenberger (1953-1997): Metro-Net, Skulptur (1997)

Martin Kippenberger war ein Spaßmacher und Provokateur. Indem er andere für sich malen ließ, führte er die Beliebigkeit von Kunst vor. Zur documenta X war von ihm eine Skulptur zu sehen, die zu einem großen Komplex gehörte. Kippenberger hatte ein weltweites Metro-Netz geplant. An unterschiedlichen Orten, so war sein Plan, sollten U-Bahn-Eingänge und Metro-Schächte installiert werden. In Kassel war am Fuldaufer ein transportabler U-Bahn-Zugang zu sehen. Ein absurdes Objekt. Immerhin funktionierte die überregionale Verbindung, denn in der parallel in Münster organisierten Skulpturen-Ausstellung war ein U-Bahn-Schacht mit den entsprechenden Fahrgeräuschen zu erleben.

Franz West (*1947): Dokustuhl, Eisenstühle mit Stoffbezügen (1997)

Die documenta-Halle war 1997 zum Begegnungs- und Diskussionsforum geworden. In ihr traf sich jeden Abend eine große Gemeinde, um Künstler, Kuratoren, Politiker und Poeten in der Veranstaltungsreihe „100 Tage – 100 Gäste“ zu erleben. Für die Bestuhlung hatte der Österreicher Franz West gesorgt, der schon verschiedentlich Sitzmöbel und passgenaue Skulpturen für Körper entworfen hatte. Die Stühle waren mit leuchtend bunten Stoffen bezogen. Diese aus Afrika stammenden Stoff-Dekors waren Wests ironischer Beitrag zu einer Ausstellung, die sich erstmals konsequent mit der Kunst und Kultur der gesamten Welt auseinander setzen wollte.

Richard Hamilton (*1922): Seven Rooms, Environment (1994/95)

Der Engländer Richard Hamilton, der in den 50er-Jahren zu den Begründern der Pop-Art gehörte, hat immer wieder mit Bilderfindungen überrascht. In der documenta X wurde die Rekonstruktion einer Galerie-Ausstellung gezeigt. Die Bilderfolge „Seven Rooms“, die Ansichten seiner eigenen Wohnung enthalten, reflektieren das Verhältnis von Wirklichkeit und Abbildung sowie von Fotografie und Malerei: In Raum-Fotos sind andere Fotos hineinkopiert. Sie wurden am Computer bearbeitet und stellenweise übermalt. Es sind vielschichtige Bilder über die Wahrheit und die Verzerrung des Abbildes. Ein Bild aus der Serie wurde für die Neue Galerie in Kassel erworben.

Matthew Ngui (*1962): “You can order and eat delecious poh-piah” amongst other things, Installation und Performance (1997)

Die Arbeit des aus Singapur stammenden Künstlers Matthew Ngui erstreckte sich über mehrere Räume im Kulturbahnhof. Zu der Installation gehörte ein Rohr, das durch das Haus zahlreiche Umwege nahm und das als einfaches Verständigungsmittel funktionierte: Während der Performance konnte man bei Ngui durch das Rohr per Zuruf Essen bestellen. Dem Künstler ging es um die verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung. An einem Durchgang hatte er einen halben Stuhl aufgestellt. Die andere Hälfte war als zeichnerische Projektion auf dem Boden zu sehen. Fand man den richtigen Standort, dann fügten sich die beiden Hälften zu einer ganzen Stuhlform zusammen. Der Betrachter also vollendete das Werk.

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