Documenta11 (Kurzprofil)

Aus: Meilensteine: 50 Jahre documenta (2005)

2002 wurde die documenta endgültig zur Weltausstellung der zeitgenössischen Kunst. An die Spitze wurde der Afro-Amerikaner Okwui Enwezor (Jahrgang 1963) berufen, der um sich ein internationales Kuratorenteam sammelte, das entschieden dazu beitrug, die westlich-abendländische Kunst in den Dialog mit der Kunst aus Afrika, Asien und Lateinamerika zu bringen. Wie bei der documenta X erhielten die Fotografie und die Video-Arbeiten sowie das Filmprogramm ein großes Gewicht. Durch den Zugewinn der Räume der ehemaligen Binding-Brauerei hatte Enwezor die Chance, praktisch jedem Künstler einen eigenen Raum zuzuweisen und großzügige Video-Installationen zu ermöglichen. Es war eine der am stärksten politisch ausgerichteten Ausstellungen, in der mit Hilfe der Kunst die Fragen des Post-Kolonialismus und der Globalisierung abgehandelt wurden. Zur Vorbereitung der Ausstellung hatte Enwezor weltweit vier Vortrags- und Diskussionsforen (Plattformen) veranstaltet, in denen die Voraussetzungen für die Kunst der Gegenwart erörtert wurden. Während bei der documenta X die ablehnende Kritik die Anerkennung überwog, konnte Enwezor viel Zustimmung ernten, obwohl seine Ausstellung konsequent die 1997 eingeschlagene Richtung weiter verfolgte.

116 Künstler und Künstlergruppen, 650 000 Besucher. Etat: 18 Millionen Euro, Erlöse: 10,266 Millionen Euro, Zuschüsse: 8,633 Millionen Euro, Spenden: 175 824 Euro. Orte: Museum Fridericianum, documenta-Halle, Kulturbahnhof und Binding-Brauerei.

Beispielhafte Werke aus: Texte zum documenta-mobil (2005)

Thomas Hirschhorn (*1957): Bataille Monument, Mixed Media (2002)

Inmitten der Kasseler Nordstadt, dort, wo viele Ausländer und sozial Schwache leben, schlug für mehrere Monate der in Paris lebende Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn sein Lager auf. Mit Hilfe junger Leute aus dem Viertel baute Hirschhorn eine kleine Budenstadt mit Fernsehstudio, Bibliothek, Ausstellungsraum und Imbiss. Dazu gehörte noch eine Art Denkmal. Das ganze Projekt verstand er als ein Monument zu Ehren des radikalen französischen Denkers George Bataille. Buden und Denkmal wurden nach der documenta abgerissen. Der Künstler konnte mit dem Projekt demonstrieren, wie gut sich selbst komplexeste Themen mit Hilfe der Anwohner aufbereiten lassen.

Ecke Bonk (*1953): Buch der Wörter, Installation (2002)

Im Museum Fridericianum hatten Jacob und Wilhelm Grimm als Bibliothekare gewirkt. Dort erarbeiteten sie die Grundlagen für das von ihnen begonnene Deutsche Wörterbuch mit seinen rund 300 000 Stichwörtern. Ecke Bonk widmete dieser Großtat seine dreiteilige Arbeit. In einem Raum stellte er die einzelnen Textlieferungen zum Wörterbuch aus. Die schmalen Hefte waren wie Bilder zu betrachten. Daneben lief als Projektion Tag und Nacht die Abfolge der Stichwörter. Krönung der poetischen Arbeit war die Projektion der nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Texte zu den Stichwörtern auf drei Wände eines Raumes. Es wurde sichtbar, welch enormer Kosmos sich durch das Wörterbuch erschließt.

Shirin Neshat (*1957): Tooba, Video (2202)

Zu den besonderen Leistungen der Documenta 11 gehört, dass sie eine Vielzahl gelungener und eindringlicher Video-Installationen bot. Eine der herausragenden Präsentationen war die Doppelprojektion der in New York lebenden Iranerin Shirin Neshat. Auf der einen Wand sah man, wie die Gestalt einer alten Frau allmählich mit dem Stamm eines Baumes verschmolz, der auf einem umfriedeten Grundstück stand. Auf der gegenüberliegenden Seite wurde gezeigt, wie sich eine Gruppe von Dorfbewohnern der Mauer, die den Baum umgab, näherten, wie sie bedrohlich die Mauer überwanden und sich dann doch nichts Dramatisches ereignete. Das war eine äußerst poetische Auseinandersetzung mit dem Mythos von Mensch und Natur.

Doris Salcedo (*1958): Novembre 6 und Thou-less, Stahl, Holz, Blei (2001/02)

Ein Raum, der den Opfern der Gewalt gewidmet war. An den Wänden hingen die ausdrucksstarken Bilder von Leon Golub. Davor standen auf dem Boden Stühle. Einige Stühle wirkten, als seien sie verschmolzen oder zusammengewachsen, andere sahen kaputt und zerstört aus – wie amputiert. Die Kolumbianerin Doris Salcedo wollte mit ihrer Arbeit an eine Tragödie in ihrem von Gewalt und Krieg erschütterten Land erinnern. Statt das Drama, von dem sie berichten wollte, mit vordergründigen menschlichen Figuren darzustellen, hatte sie einen Umweg gewählt: Die Stühle, die zum alltäglichen Leben gehören, wurden hier zu Symbolen für die Menschen. Sie dokumentierten das Leiden, das die Menschen zu erdulden hatten.

Yinka Shonibare (*1962): Gallantary and Criminal Conservation, Mixed Media (2002)

Erstmals waren Künstler aus Afrika beziehungsweise afrikanischer Abstammung mit Arbeiten in der documenta vertreten. Das Raumbild des in London lebenden Künstlers Yinka Shonibare führt in das 18. Jahrhundert zurück. In der Zeit war es üblich, dass junge Adlige aus England in die Fremde reisten und sich dabei das Recht herausnahmen, sich in den Gastländern auch sexuell freizügig zu bedienen. Shonibare präsentierte eindeutige Liebensszenen, wobei er die Figuren im Wortsinne kopflos handeln ließ. Die handelnden Personen waren in schöne Stoffe gekleidet, die wir als afrikanisch empfinden. In Wahrheit handelt es sich aber um Farben und Muster, die die Kolonialherren nach Afrika gebracht haben.

Bodys Isek Kingelez (*1948): Kimbeville, Papier, Karton, Sperrholz (1994)

Wie könnte die Stadt der Zukunft aussehen? Der aus dem Kongo stammende Künstlers Bodys Isek Kingelez ist kein Architekt. Aber seit Jahren lässt er seine Fantasie schweifen und baut aus einfachsten Materialien Traumstädte. Diese Gebilde sind bunt, wirken leicht kitschig und wachsen noch weiter in den Himmel. Aber sie haben etwas Liebenswertes. Sie wirken verspielt und menschlich. Selbst Hochhausschluchten wirken weder fremd noch anonym. Wenn man die Fantasiebauten von Kingelez mit den realen Wolkenkratzern vergleicht, dann merkt man, dass die Differenzen gar nicht so groß sind. Denn auch die Architekten wollen die Funktionsbauten zu schmuckvollen Türmen und kathedralartigen Gebäuden erheben.

Jeff Wall (*1946): Invisible Man, Cibachrome in Leuchtbox (2001)

Der Kanadier Jeff Wall ist ein Meister panoramaförmiger Aufnahmen, die er in Leuchtkästen präsentiert und die wie Gemälde wirken. Die Fotos sind kunstvoll inszeniert und oftmals in mehreren Arbeitsgängen zusammengestellt. Trotzdem erscheinen sie meist wie spontan entstandene Momentaufnahmen. Hier blickt man in einen geheimnisvollen Raum. Die Aufnahme ist nach dem Roman „The Invisible Man“ von Ralph Ellison komponiert. Darin wird von einem Mann erzählt, der sich in einen Raum zurückgezogen hat, den er mit 1369 Glühbirnen erleuchten kann. Mit Hilfe der Helligkeit will er Gewissheit über seine eigene Existenz erlangen, um sich so auf seine Aufgaben draußen in der Welt vorzubereiten.

Georges Adéagbo (*1942): L’explorateur et les explorateurs devant l’histoire de l’exploration. Letheatre du monde, Mixed Media 2002

Der aus Benin stammende und dort lebende Georges Adéagbo versteht sich selbst nicht als Künstler, bewegt sich mit seinen Arbeiten aber seit Jahren im Kunstbetrieb. Für die Ausstellungen, in die er eingeladen wird, schafft er Erinnerungsräume, in denen er das Treibgut zeigt, das er geborgen hat. Er bringt Figuren und Bilder aus seiner Heimat mit und kombiniert die Dinge mit Bildern, Manifesten, Zeitungen, Büchern und Kuriosa, die er am Ort der Ausstellung gefunden hat. So mischt er die Kulturen und gestaltet Monumente, in denen sich der Zeitgeist spiegelt. Der Raum, den er in Kassel gebaut hatte, war in Teilen speziell der documenta und ihren Heroen (Arnold Bode, Joseph Beuys, Harald Szeemann) gewidmet.

Constant (*1920): New Babylon, Zeichnungen, Bilder, Modelle (1956-74)

Für die meisten Besucher barg der der Raum des Niederländers Constant eine Überraschung. Man kannte Constant als Maler. Nun wurde er mit einem 30 bis 40 Jahre alten Projekt vorgestellt, in dem er sich städtebaulichen Visionen hingegeben hatte. Seine Studien und Modelle waren nicht als konkrete Vorschläge für eine Stadt gedacht. Vielmehr verstanden sie sich als Einübungen in ein neues Denken, als Entwürfe für eine Gesellschaft, die sich unter den Bedingungen der Automatisierung neu organisieren muss. Die Documenta11 hatte mehrere Künstler und Architekten mit utopischen Modellen eingeladen. Dahinter hatte der Wunsch gestanden, die stadtgestalterische Diskussion durch Gegenentwürfe aufzubrechen.

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