Arnold Bode und der Impuls zur documenta

Alle Untersuchungen der documenta-Geschichte bleiben dann ratlos und spekulativ, wenn sie erklären wollen, warum es 1955 gelingen konnte, in Kassel eine Kunstausstellungs-Reihe zu etablieren, die alle vergleichbaren Unternehmungen in den Schatten stellte. Erschwert werden diese Bemühungen nicht nur durch die unsichere Quellenlage, sondern vor allem dadurch, dass nachgeschobene Begründungen und Rechtfertigungen die Ursprungs-Intentionen überlagerten oder verdrängten. Nahezu alle Beteiligten haben dazu beigetragen – auch Arnold Bode selbst. So sagte er 1977 in einem Interview: „…Was tun in dem zerstörten Kassel? So am „Untergang“ mußten wir neu beginnen.! Wir dachten an unsere Kunstakademie, die 32 von Brüning geschlossen worden war. Wir haben die „Neugründung“ der Akademie ab 47 hinbekommen.! 55 kam die Bundesgartenschau, ein großer Erfolg! Wir planten mit meinen Freunden Mettel, Haftmann, Grohmann und Martin eine Kunstausstellung. Wir wollten nach den Jahren der Nazizeit die Kunst der 20er Jahre zeigen – vor allem: Die Künstler aus Frankreich.“
Oberflächlich und rückschauend ist das zum Teil richtig. Wenn man aber nach dem eigentlichen Impuls fragt, stimmt diese Darstellung nicht. Die genannten Mitstreiter kamen nämlich erst zum Zuge, als der grundsätzliche Plan für die Ausstellung schon stand. Die wahren Initiatoren entstammten ausnahmslos dem Kasseler Freundeskreis, der sich aus dem gemeinsamen Interesse an der Kunst gebildet hatte. Und das kriegszerstörte Kassel sowie die überstandene Nazizeit bildeten die Kulisse, vor der die Idee reifte. Aber wenn man den Expose´s aus der Zeit vor dem 19. Januar 1954 folgt, dann waren diese Überlegungen nicht Gegenstand der Erörterung. Da ging es anfangs allein um eine autonome Kunstausstellung _ ohne irgendwelche politischen oder didaktischen Hintergründe: „Wer die Situation zu überschauen vermag, weiss, dass es in Europa seit Kriegsende noch keine Ausstellung gegeben hat, die die Frage nach der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts in genügender Weise beantwortet hat…. Die Ausstellung sollte nur Meister zeigen, deren Bedeutung für die Gegenwart nach strenger Auswahl unbestreitbar ist, jeweils in wenigen entscheidenden Werken von letzter Qualität… Mit dieser konsequenten Einseitigkeit allein wäre diese Ausstellung in der Lage das höchste Interesse zu wecken.“
Erst in einem späteren Papier, in dem Bode und seine Kasseler Freunde wie Landgerichtspräsident Erich Lewinsky, Regierungspräsident Fritz Hoch, Prof. Hermann Mattern, Hilde Römer-Bergfeld und Herbert Frhr. v. Buttlar als Unterzeichner auftreten, ist die Anspielung auf das Nachkriegsschicksal Kassels (Zerstörung und Zonenrandlage) zu finden. Man kann davon ausgehen, dass es nun, da es um die politische Durchsetzbarkeit des Plans ging, diese geo-politischen Argumente ins Feld geführt wurden. Und der Gedanke, die Ausstellung sollte den Deutschen ermöglichen, die von den Nazis verfemte Kunst zu erleben, ist ebenfalls als nachträgliche Überhöhung zu verstehen. In den ersten Papieren ist nicht die Rede davon. Obwohl Werner Haftmann in seinem Katalogbeitrag und seiner Eröffnungsrede in dieser Hinsicht zur Verklärung beigetragen hat, traf er doch den Kern der Intentionen, als er schrieb: „Hier vollzieht sich jetzt für Deutschland die erste Begegnung der jüngeren deutschen Kunst mit den Künstlern der anderen europäischen Länder….Wir können nun zum ersten Mal vergleichen.“ Ulrike Wollenhaupt-Schmidt hat in ihrer Untersuchung der documenta 1955 verdeutlicht, dass es keinesfalls, wie gern behauptet, stimmt, diese erste Ausstellung habe nur die Kunst bis 1945 aufgearbeitet. Vielmehr wies sie anhand der Statistik einleuchtend nach, dass über 40 Prozent der gezeigten Arbeiten aus der Nachkriegszeit stammten.

Das bedeutet: Die erste documenta wurde politisch dadurch begünstigt, dass sie im zerstörten Kassel unmittelbar an der Zonengrenze geplant wurde und dass sie ermöglichte, die durch die Nazis verfemte Kunst wiederzusehen. Ursprüngliches Ziel der Freundesgruppe um Mattern und Bode aber war, eine Kunstausstellung zu ermöglichen, die im europäischen Vergleich sichtbar machen sollte, wo die Kunst der Nachkriegszeit stand und auf welchen Meistern und Werken sie sich gründete. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es in der Planungsphase feste Absicht war, die Kunstausstellung, die Architektur einschließen sollte, durch „festspielartige Veranstaltungen, die Tanz, Musik, Drama, Dichtung in Beziehung zu den durch die Kunstausstellung aufgeworfenen Problemen zu bringen suchen“ zu ergänzen.

Unstreitig ist, dass die Idee, die Bundesgartenschau mit einer Kunstausstellung zu verknüpfen, aus Matterns weit gefasstem Gartenschau-Konzept entwickelt wurde. Mattern, der an der Staatlichen Werkakademie tätig war, hatte den Anstoss gegeben. Doch hatte er die Kunstschau unter die Fittiche der Gartenschau nehmen und ihr den Ort in einem Zelt zuweisen wollen.

Aber diese Ursprungsidee muss sich sehr schnell eigenständig weiter entwickelt haben. Wie konnte es dazu kommen? Woher nahmen Arnold Bode und seine Freunde den Mut mit einem solchen Anspruch aufzutreten und Kassel zu einem Ort der Bestandsaufnahme der Kunst zu machen? Die Antwort ist einfacher als vermutet: Weil vor allem für Arnold Bode ein solches Vorhaben nahe liegend war. In einem Gespräch mit Lothar Orzechowski sagte Marlou Bode auf die Frage, ob die Idee „länger virulent gewesen sei“: Ja, sehr lange, schon im Krieg.“ Diese Aussage von Bodes Witwe führt auf die richtige Spur, liefert aber nicht die vollständige Erklärung. Die ist in der Tatsache zu finden, dass für Bode seine Heimatstadt Kassel ein selbstverständlicher Ort für Ausstellungen aktueller Kunst war, die über die Stadt hinaus Bedeutung hatten. Er brauchte nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg nur an eine Ausstellungstradition anzuknüpfen, die sich in den 20er Jahren entwickelt hatte. Da waren in der Orangerie in den Jahren 1922, 1925, 1927 und 1929 insgesamt vier Kunstschauen veranstaltet worden, die den Anspruch hatten, neben der regionalen Kunst die aktuelle Kunst in Deutschland sichtbar zu machen. Bereits an der ersten Ausstellung waren Künstler wie Lyonel Feininger und George Grosz beteiligt. In allen vier Ausstellungen war Bode als Maler mit Bildern vertreten. Und für die „Vierte große Kunstausstellung Kassel 1929“ bildete er gemeinsam mit seinem Malerkollegen Heinrich Dersch die „Auswahlkommission für die Abteilung Neue Kunst“.

Bei der Organisation der Ausstellungen hatten sich insbesondere die Akademie und der Kunstverein zusammengefunden. Aber es waren immer eigene Organisationskomitees gebildet worden, deren Strukturen als direkte Vorbilder für die erste documenta angesehen werden können. Der bei Bärenreiter in Kassel gedruckte Katalog der „Vierten großen Kunstausstellung Kassel 1929“, der keinerlei begleitenden Text enthält, führt auf den Seiten 3 bis 5 die Organisationsgremien auf: Vorsitzende, Ehrenausschuss, Gesamtausschuss, Finanzausschuss, Presseausschuss, Jury für Abteilung. „Hessische Kunst“, Auswahlkommission für Abteilung „Neue Kunst“ und Geschäftsführer der Ausstellung.

Blickt man in den Katalog der ersten documenta findet man dort folgende Gremien verzeichnet: Ehrenausschuss, Mitglieder der Gesellschaft „Abendländische Kunst des XX. Jahrhunderts e.V.“, Arbeitsausschuss, Sekretariat, Ausstellung. Vor allem die Einbindung der Repräsentanten aus der Politik in den Ehrenausschuss wird für Bode ein unmittelbares Vorbild gewesen sein. Das heißt: Insbesondere dank der Ausstellung von 1929, an deren Organisation er nachweislich an verantwortlicher Stelle beteiligt war, wusste Bode, wie man an die Planung einer Ausstellung außerhalb einer bereits bestehenden Institution herangeht. In dem Gesamtausschuss waren nicht nur Künstler und Kunstkenner vertreten, sondern auch Politiker und Leute aus der Wirtschaft, die zur Finanzierung beitragen konnten. Auch die Laufzeiten der Orangerie-Ausstellungen gaben den Rahmen für die documenta vor: Juni bis September. Das war die Spanne, die dann zur Grundlage für das „Museum der 100 Tage“ werden sollte.

Aber nicht nur die Rahmenbedingungen der Orangerie-Ausstellungen sprechen dafür, dass Bode und seine Freunde, als sie 1953/54 an die Entwicklung der documenta-Idee gingen, manches gar nicht erfinden oder von außen importieren mussten, sondern da anknüpfen konnten, wo die Kasseler Kunstfreunde 1929 aufgehört hatten. Bei der Untersuchung der inhaltlichen Seite soll der Blick auf die beiden Ausstellungen von 1927 und 1929 gelenkt werden, weil sie von herausragender Bedeutung sind und zudem die Quellenlage günstiger ist als bei den ersten Unternehmungen.

1927 war das 150-jährige Bestehen der Kunstakademie Anlass für die Ausstellung in der Orangerie. Ein geschichtlicher Abriss würdigte in dem Katalog „Jubiläums Kunstausstellung“, Kassel 1927, „Die Kunstakademie zu Kassel und das deutsche Kunstleben“ Dem Text entsprechend blickte die vierteilige Ausstellung über die Grenzen der Region hinaus auf die ganze deutsche Kunst: Nach der „Rückschauenden Abteilung“ folgte die „Heutige Akademie“; dann gab es eine Abteilung „Hessische Kunst der Gegenwart“ und schließlich die „Deutsche Kunst der Gegenwart“

In dieser letzten, aus dem Blickwinkel der ersten documenta besonders interessanten Abteilung fanden sich Arbeiten unter anderem von Corinth, Dix,, de Fiori, Feininger, Felixmüller, Grosz, Heckel, Hofer, Klee, Kokoschka, Liebermann, Marcks, Mueller, Nauen, Pechstein, Rohlfs und Schmidt-Rottluff. Georg Jacob Wolf widmete in der Zeitschrift „Die Kunst“ der Ausstellung einen neunseitigen, reich bebilderten Bericht, in dem er unter anderem schrieb: “ Unter dem Gesamttitel „Deutsche Kunst der Gegenwart“ wogt es allerwärts von zeitgenössischen Gebilden fortschrittlichster Artung. Alles Konservative blieb fern. Die Maler des Bauhauses in Dessau, die Münchner Neue Secession, der extreme Flügel der Berliner Secession, die modernsten Dresdner sind zur Stelle.“9 Aus der rückschauend angelegten Bestandsaufnahme war eine Ausstellung erarbeitet worden, die in die unmittelbaren Auseinandersetzungen der Gegenwart führte. Auch dies war ein Grundgedanke, der für die erste documenta bestimmend war.

Noch ein Weiteres kommt hinzu. Für den heutigen Leser des Katalogs taucht in der Abteilung „Hessische Kunst der Gegenwart“ völlig überraschend ein Verzeichnis von acht Architekturbüros auf, von denen innerhalb der Ausstellung Bau-Projekte vorgestellt wurden. Damit war 1927 bereits jene Verbindung von Kunst und Architektur angelegt, die Arnold Bode für die documenta immer wollte und die schließlich 1982 mit der documenta urbana – anders als gedacht – realisiert wurde. In den ersten Exposes zur documenta ist nachzulesen, dass ursprünglich die Ausstellung um Darbietungen der anderen Künste und Architektur erweitert werden sollte. Von dem Plan blieb nur wenig. Immerhin schaffte es Bode, in die Ausstellung und den Katalog eine Bilddokumentation der Architektur der Moderne einzubeziehen.

Merkwürdigerweise hat Bode in seinem wie in Gedichtform geschriebenen Lebenslauf die vom Kunstverein veranstaltete Ausstellung von 1929, für die er an entscheidender Stelle mitgearbeitet hat, nicht erwähnt. Da steht nur unter dem Jahr 1925: „Ausstellung in der Orangerie Kassel, mitorganisiert und ausgestellt: 1922 – 1925 – 1927“.11 Es ist davon auszugehen, dass der junge Künstler mit zunehmender Verantwortung an allen vier Ausstellungen mitgewirkt hat. Warum er aber gerade die Ausstellung nicht erwähnte, die ihn als Jury-Mitglied auswies, ist rätselhaft.

Obwohl es 1929 für die hessische und die deutsche Kunst zwei verschiedene Kommissionen gab, wurde im Katalog die Trennung teilweise aufgehoben. Das Künstler- und Werkverzeichnis ist alphabetisch angelegt, der Abbildungsteil bringt jedoch die hessischen Künstler am Schluss. Als Arnold Bode 1929 mit Heinrich Dersch zusammen die „Neue Kunst“ zusammenstellen durften, da steckten sie einen Rahmen ab, der zwar nicht deckungsgleich mit der Auswahl der deutschen Künstler für die documenta 1955 war, der aber schon einen wesentlichen Teil der Namen umfasste. In beiden Ausstellungen (1929 und 1955) vertreten waren: Albers, Baumeister, Feininger, Gilles, Heckel, Hofer, Kandinsky, Klee, Lehmann, Marcks, Matare´, Mueller, Nay, Pechstein, Purrmann, Rohlfs und Schlemmer. Berücksichtigt man, dass in der Ausstellung von 1927 ferner Dix, de Fiori, Kokoschka und Schmidt-Rottluff dabei waren, dann war 1927 und 1929 schon die Kerngruppe der deutschen Kunst der 20er Jahre versammelt, der auch die documenta von 1955 prägen sollte.

Paul Westheim rezensierte in seiner Zeitschrift „Das Kunstblatt“ die Schau von 1929 unter anderem mit den Worten: „Jetzt hat der Kunstverein in der Orangerie eine Ausstellung junger Kunst organisiert, die weit über Kassel hinaus Interesse verdient. Wie im vorigen Jahr in Düsseldorf nicht wieder das übliche Bild, nicht wieder die sattsam bekannten und zum Teil schon ausgedienten Größen des Ausstellungsbetriebes, sondern eine Phalanx der jungen frischen Kräfte, die einen neuen Auftakt ankündigen.“

Ein Künstler und Kunst-Professor, zu dessen Biografie eine solche Ausstellungsleistung gehört, muss gar nicht viel Phantasie aufwenden, um rund 15 Jahre später einen neuen Anlauf zu unternehmen und nun der Kunst und der politischen Atmosphäre gemäß den Blick über die deutschen Grenzen hinaus auf Europa zu lenken. Es ist davon auszugehen, dass ihn in der Folgezeit immer wieder der Gedanke umtrieb, diese Ausstellungsreihe in Kassel fortzusetzen und vielleicht dafür einen noch größeren Rahmen zu gewinnen. Der Wunsch wird um so dringlicher geworden sein, je gnadenloser die Nazi-Zeit und deren Folgen waren. Ein Künstler und Mitgestalter von Ausstellungen, der erlebt, wie die Kunst, die er liebt und selbst mit an die Öffentlichkeit gebracht hat, verfemt wird, wartet sehnsüchtig auf den Zeitpunkt, zu dem er selbst zur Umkehr beitragen kann. Es ist vorstellbar, dass es nach 1945 in Bode immer wieder arbeitete, wie sich die anerkannten Kasseler Unternehmungen aus den 20er Jahren neu beleben ließen. Dass er und andere dabei nicht nur an die deutsche, sondern an die europäische Kunst dachten, lag in der Natur der Kunst selbst und im Geist der Zeit.

Also ist davon auszugehen, dass Bode wie elektrisiert reagierte, als Mattern vorschlug, zur Bundesgartenschau 1955 eine Kunstausstellung zu planen. Da war genau die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Die Grundidee zur documenta war für Bode also etwas Naheliegendes – da gab es weder Zweifel am Ort noch an der Frage, ob man eine solche Organisation hinbekomme. Allerdings war es nicht unbedingt vorauszusehen gewesen, dass es auch gelingen würde, die Meisterwerke aus aller Welt für diesen Zweck zusammenzuholen. Ebenso war beim Beginn der Planung nicht zu erahnen, welchen Erfolg das Unternehmen haben würde.

Aber selbst der Gedanke an die regelmäßige Neuauflage der Ausstellung hat seinen Ursprung in der frühesten Planungszeit. In den von Hoch, Lewinsky, Bode, Mattern, v. Buttlar und Lemke unterzeichneten „Unterlagen zum Plan einer ‚Europäischen Kunstausstellung des 20. Jahrhunderts‘ während der Bundesgartenschau 1955″steht: „Diesem Kern der Ausstellung sollen sich Überblicke über Plastik, Architektur und eventuell Bühnenbild anschließen. (Bei einer Weiterführung der Ausstellung mit etwa vierjähriger Wiederholung könnte immer eines der jetzigen Randgebiete das Hauptthema bilden, sodaß eine Variation des gleichen Themas mit wechselnder Schwerpunktverteilung gegeben wäre.)“. Bekräftigt wird dieser Satz durch eine handschriftliche Notiz auf dem II. Expose´, wo er unter Trägerschaft hinzuschrieb: „z. B. eine ‚Quadrinale“ – alle 4 Jahre“. Der ursprüngliche Vier-Jahres-Rhythmus der documenta war also schon angedacht, bevor die Kasseler Erfolgsausstellung ihren Namen hatte.

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