Zehn Stunden Joseph Beuys

Joseph Beuys 1972 in seinem documenta-Büro

Protokoll eines Tages im Büro der „Organisation für direkte Demokratie“ durch Volksabstimmung

Joseph Beuys: 1921 in Kleve geboren. 1940 Abitur. 1941-45 Kriegsdienst als Sturzkampfflieger. 1947-52 Studium an der Akademie für Bildende Künste in Düsseldorf. Seit 196l Professor an der Akademie. Im Museum Fridericianum hat Joseph Beuys ein Büro seiner 1971 gegründeten »Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung- eingerichtet. Hier sitzt er während der gesamten documenta 5,100 Tage lang, um mit den Besuchern zu diskutieren. Kein Tag, an dem Beuys nicht da ist. Wir beobachteten ihn in seinem Büro einen Tag lang. Von 10 bis 20 Uhr.

10 Uhr. Die documenta öffnet. Beuys in roter Fliegerweste und mit Filzhut, ist in seinem Büro. Er hat zwei Mitarbeiter. Auf dem Schreibtisch eine langstielige Rose, daneben Flugblätterstapel. An der Fensterwand eine blaue Neonschrift:
„Büro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“. Außerdem ringsum an den Wänden sieben Schiefertafeln. Auf einer steht allein das Wort „Mensch“.
11 Uhr. Bisher rund 80 Besucher im Büro. Die Hälfte etwa bleibt meist in der Tür stehen und schaut sich um, die anderen gehen an den Tafeln vorbei und bleiben dann auch länger im Büro. Einige kommen nur bis an die Tür und schrecken zurück, als wären sie in die falsche Toilette geraten.
11.07 Uhr. Der Raum füllt sich. Beuys bietet einem jungen Mann Material an und leitet so das erste Gespräch ein. Ein junger Mann fragt nach dem Ziel von Beuys und meint, bei einer Volksabstimmung würden sich 90 Prozent für das jetzige System aussprechen. Beuys erklärt die derzeitige Parteienstruktur, in der von oben nach unten regiert werde. Er wolle aber ein System, das sich von unten nach oben aufbaue. Selbst wenn 60 Prozent bei einer Volksabstimmung für die jetzige Struktur stimmten, wäre es ein Erfolg, weil dadurch ein neues Bewusstsein geschaffen würde.
11.20 Uhr. Das Gespräch weitet sich aus; fünf Zuhörer. Ein Mann, der sich als Mitglied einer Partei zu erkennen gibt, schaltet sich ein. Beuys erläutert sein Konzept: „Wir wollen kein Machtfaktor sein, sondern eine unabhängige freie Schule.“ Ziel sei es, ein ganzes Netz von Büros als Schulungsstätten einzurichten, die zur Bewusstseinsbildung beitragen. Man müsse von den jeweils vorhandenen Möglichkeiten ausgehen. So sei in der Verfassung von Nordrhein-Westfalen die Volksabstimmung vorgesehen, ohne dass sie in
Anspruch genommen werde. Für die Bundestagswahl empfiehlt er Wahlenthaltung, verbunden mit einer Gegendemonstration, die deutlich mache, warum man nicht wähle. Das Parteimitglied läßt sich Material geben: „Ist auch für mich ganz interessant.“
11.45 Uhr. Bisher 130 Besucher. Das Gespräch geht mit anderen weiter, acht Zuhörer. Ein junger Schweizer fragt, ob Beuys die Verstaatlichung der Betriebe wolle. Die Antwort: „Nein, ich halte nichts von Verstaatlichung, sondern ich will Vergesellschaftung.“ Der Staat, ob westlicher oder östlicher Prägung erscheint ihm als Übel. Er zitiert Bischof Dibelius, der den Staat als das „Tier aus dem Untergrund“ bezeichnete.
12.20 Uhr. Bisher 210 Besucher. Ein erregtes Streitgespräch beginnt zwischen Beuys und einem jungen Mann, der sich als DKP-Mitglied bezeichnet. l6 Zuhörer. Der junge Mann nennt die Beuyssche Aktion „Blödsinn“. Hier werde nur Energie verschwendet. „Was habt Ihr schon erreicht?“ fragt er und fordert Beuys auf, sich lieber in die Arbeiterbewegung einzu-reihen als eine Organisation zu fuhren, die auch von Unternehmen finanziert wird. Darauf Beuys: „Du kannst nicht denken. Ich kann mit dem Klassenbegriff nicht arbeiten. Es geht um den Menschenbegriff. Man muss schlicht verwirklichen, was es in der Geschichte noch nie gegeben hat, nämlich Demokratie.“
12.35 Uhr. Mittlerweile 22 Zuhörer. Ein älterer Mann mischt sich ein: „Dürfen wir hier über die documenta sprechen und nicht nur über Politik?“ – Beuys:
„Hier geht es um Politik, um die Kreativität aller“ – Als der Mann vom Fiasko der Ausstellung spricht, weil hier keiner direkt angesprochen werde, meint Beuys: „Das ist auch ein Fiasko der Besucher, weil sie nicht mehr fähig sind, sich darauf einzustellen.“
13.00 Uhr. Bisher 360 Besucher. Das erregte Gespräch mit dem DKP-Mitglied geht weiter, 22 Zuhörer. Beuys verteidigt sich energisch gegen den Vorwurf, er hänge einer Utopie nach und meint: „Ich bin gegen eine Revolution, bei der nur ein Tröpfchen Blut fließt.“ Marxisten, so sagt er in diesem Zusammenhang, sind für ihn gläubige Fetischisten.
1:5.05 Uhr. Eine junge Dame: „Herr Beuys, Ihre Kunstwerke sind Bestandteil des Systems – nämlich unbezahlbar.“ Beuys: „Jeder, der im System lebt, partizipiert an ihm. Ich muss es durch den Verkauf meiner Arbeiten ausnutzen.“
13.30 Uhr. Bisher 450 Besucher. Zur Zeit 30 Zuhörer. Ein Mann, mittlerer Jahrgang, spricht Beuys auf die Veränderungsmöglichkeiten durch die Kunst an. Beuys wehrt ab: „Kunst ist nicht dazu da, den Staat umzustürzen. Nach meinem Kunstbegriff will ich Wirkung in allen Lebensbereichen. Das, was ich hier praktiziere, ist mein Kunstbegriff.“ Er bekennt: „Ich glaube an den Menschen.“
14.00 Uhr. Bisher 535 Besucher. Nach Verteilung von Material ist eine Ruhepause eingetreten. Beuys stärkt sich: Kaffee und Joghurt. Einem jungen Mädchen erklärt er seine Vorbilder: Rudolf Steiner, Schiller und Jean Paul.
14.30 Uhr. Ein junger Mann: „Ich sehe nicht den Zusammenhang zwischen Ihrer Theorie und Ihren Filzobjekten.“ – Beuys: „Viele haben nur meine Objekte gesehen, nicht aber meine Begriffe, die dazu gehören.“
15 Uhr. Bisher 560 Besucher. Ein junges Mädchen kommt auf Beuys zu und fragt: „Das hier ist Kunst?“ – Antwort: „Eine besondere Sorte Kunst. Man kann mitdenken.“
16.05 Uhr. Bisher 625 Besucher. Zwei Italiener erkundigen sich, ob man Beuys als gewaltlosen Anarchisten bezeichnen könnte. Beuys sagt „ja“.
16.15 Uhr. Das Büro füllt sich wieder. Ein Lehrer fragt: „Wen vertreten Sie denn?
Volksherrschaft, was heißt das? Welche Vorbilder haben Sie?“ Beuys: „Ich habe keine geschichtlichen Vorbilder. Ich gehe von den Gegebenheiten aus und will diese Gegebenheiten zum Wohl der Menschen verbessern.“ Es entsteht ein Streitgespräch darüber, ob direkte oder nur repräsentative Demokratie möglich ist.
16.30 Uhr. Bisher 670 Besucher. Zur Zeit 20 Zuhörer. Ein älterer Mann: „Man wird hier zu wenig unterhalten. Vieles ist auf der documenta zu langweilig. Die documenta ist immer noch zu elitär.“ Beuys: „Die Kunst ist in einer Krise. Alle Gebiete sind in einer Krise.“
16.40 Uhr. Eine jüngere Frau: „Sie sind ein Großverdiener auf dem deutschen Kunstmarkt. Was machen Sie mit dem Geld?“ – Beuys: „Das Geld geht in diese Organisation.“
16.45 Uhr. 18 Zuhörer. Als Beuys einem Lehrer empfiehlt, auf seinen Beamten-Status zu verzichten, beginnt eine erregte Diskussion. So etwas könne sich nur ein Beuys leisten, weil er ein bekannter Künstler sei, heißt es. Der Lehrer: „Meine Situation ist mittelbeschissen. Sie stehen leicht da mit Ihrem moralischen Bekenntnis.“
17.15 Uhr. Bisher 720 Besucher. Nach einer Aussprache über die Rolle des Kunsthandels als Zwischenhandel wieder Ruhepause. Der Verkauf der Plastiktüten mit der schematischen Darstellung der „direkten Demokratie“ blüht. Erstmals an diesem Tag verlangen Besucher Beuys‘ Signatur auf diese Tüten.
18.00 Uhr. Der Besuch lässt spürbar nach. Bisher 780 Besucher.
19.40 Uhr. Insgesamt 811 Besucher, darunter 35, die gefragt oder diskutiert haben.
20.00 Uhr. Büro Beuys schließt.

Hessische Allgemeine (26. Juli 1972). Nachgedruckt in: Joseph Beuys, hrsg. V. Adriani, Konnertz, Thomas, Köln 1973, S. 161 ff. – Pejling af tysk kunst, Louisiana Revy, 1977, S.15. – Joseph Beuys – documenta-Arbeit, hrsg. V. Loers, Witzmann, Stuttgart 1993, S. 86f. – Wiedervorlage d5 – Eine Befragung des Archivs zur documenta 1972, Hrsg. von Roland Nachtigäller, Friedhelm Scharf und Karin Stengel, Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2001, S. 124f. – Participation Documents of Contemporary Art. Edited by Claire Bishop, Whitechapel, London, The MIT Press, Cambridge, Masachusetts 2006, S. 120f.

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