Ausstellung als sozialer Aktionsraum

Der documenta-Leiter Roger M. Buergel zeigt im Kunstraum Lüneburg „Die Regierung“

LÜNEBURG. Die Universität Lüneburg, die in ehemalige Kasernen aus rotem Backstein gezogen ist, erscheint wie eine Idylle. Hier kann man, so scheint es, ohne große Ablenkung studieren. Die junge Universität verfügt zudem über etwas, worum sie manche andere Hochschule beneidet. Sie besitzt ein eigenes Ausstellungsforum, Kunstraum genannt. Das Forum ist mit seinen zwei Ausstellungsräumen aus der Ferne betrachtet nicht der Rede wert: In dem zweiten Teil der Ausstellungsreihe Die Regierung werden unter dem Titel Die Universität ist eine Fabrik vier Arbeiten von vier Künstlern gezeigt. Fährt man deswegen nach Lüneburg? Von dem ersten Teil hat im November außerhalb Lüneburgs kaum jemand Notiz genommen. Zur Eröffnung des zweiten Teils aber reiste ein Dutzend Kunstkritiker an. Der Grund: Zwischenzeitlich wurde der Kopf des Organisationsteams, Roger M. Buergel, zum Leiter der Kasseler documenta 12 (2007) berufen. Das Projekt Die Regierung ist mehr als nur eine Ausstellung. Es ist ein Prozess, der sich über den Zeitraum von mehr als zwei Jahren hinzieht, aus Seminaren und Symposien an der Universität Lüneburg und einer Abfolge aus sieben Ausstellungen besteht, von denen vier in Lüneburg gezeigt werden und drei weitere in Barcelona, Rotterdam und Wien zu sehen sind. Roger M. Buergel, der das Konzept gemeinsam mit seiner Frau Ruth Noack entwickelt hat, versteht es im engen Zusammenhang mit seinem Lehrauftrag, den er an der Universität Lüneburg hat. Der Prozess ist also kein Modell für die Art und Weise, wie er die documenta vorbereiten wird. Als modellhaft darf man aber seine Annäherung an die Themen und Form der Ausstellung ansehen. Buergel nutzt die Ausstellung als sozialen Aktionsraum. Ausgehend von den Überlegungen des französischen Philosophen Michel Foucault setzt sich Die Regierung mit der Erfahrung auseinander, dass einerseits immer mehr Bereiche nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesteuert werden, dass die Ausübung von Gewalt selbstverständlicher wird und dass die Versprechen von Freiheit und Selbstbestimmung zunehmend durchsichtiger werden. Der Begriff Regierung steht für ein System, in dem Handlungen die Handlungsspielräume anderer eingrenzen und prägen. Buergel und seine Frau griffen auf Künstler zurück, mit denen sie schon länger zusammenarbeiten und von denen einige den documenta-Besuchern bekannt sind. Allan Sekula etwa hatte 2002 in Kassel mit seiner Fishstory (Fotos und Texte) fasziniert. Er ist jetztin Lüneburg mit einer pointierten und polemischen Text-Foto-Geschichte von 1978/80 vertreten. Die streng und klar gehängte Arbeit School is a Factory gab der Ausstellung (Die Universität ist eine Fabrik) ihren Namen. Sie zeigt, wie die Studenten auf das Funktionieren in der Wirtschaft gedrillt werden. Imselben Raum steht ein Wohnzimmersofa, von dem aus man wie daheim voyeuristisch auf dem Monitor ein Video (Martha Rosler) anschauen kann, in dem Eltern von ihrer Tochter erzählen, die Opfer der Magersucht wurde. Diese Arbeit deutet an, was Buergel meint, wenn er fordert, die Filme und Videos müssten in einer anderen Form gezeigt werden: Die Präsentationsweise ist auf den Inhalt zugeschnitten, und die Länge des Films ist überschaubar. Auch die beiden anderen Filme wurden für die Ausstellung so geschnitten, dass sie in zehn Minuten zu sehen und zu verstehen sind. Auf eine im Raum hängende Wand werden zwei Filme projiziert, die zwei widersprüchliche Einblicke in die Konsumwelt eröffnen. Vom Altmeister des neuen französischen Films, von Jean-Luc Godard, ist eine Sequenz von 1972 zu sehen, in der eine Gruppe von Menschen die Waren im Supermarkt zum Volkseigentum erklärt und ohne Bezahlung mitnehmen will. Auf der Gegenseite zeigt Harun Farocki, den Catherine David in die documenta eingeführt hat, ein Team, das umständlich und lange verhandelt, wie Brotregale in einem Supermarkt einzurichten seien. Der heitere Filmausschnitt ist zugleich eine Parodie auf das Ausstellungmachen, mit dem sich Buergel in besonderer Weise auseinander setzt. Die kleine Ausstellung dokumentiert Buergels gesellschaftskritischen Ansatz. Aber sie ist von ihren Arbeiten her nicht theoretisch. Im Gegenteil: Die sinnlich-unterhaltenden Elemente könnten dazu verleiten, über die Tiefendimensionen hinwegzusehen. Buergel bewegt sich auf dem von Catherine David und Okwui Enwezor eingeschlagenen Kurs. Die Regierung Die Universität ist eine Fabrik, Kunstraum, Universität Lüneburg, Scharnhorststraße, bis 12. Februar, Do 16-20 Uhr, Fr, Sa, So 14-18 Uhr und nach Vereinbarung. Info: Tel. 04131-781210, www.dieregierung.uni-lueneburg.de
HNA, 31. 1. 2004

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