Die Bilder in uns

Zu den Arbeiten von Conny Bosch

Es ist ein Irrtum, zu glauben, wir seien auf Entdeckungen aus. Wir suchen Ansichten und Bilder, das stimmt. Aber wir suchen vor allem solche, die wir in uns tragen. Im Grunde sind wir allein darauf aus, Belege für unsere vertrauten Vorstellungen zu finden. Haben wir sie gefunden, sind wir so überrascht und erfreut, dass wir sie für Neuentdeckungen halten.

Die Fotoarbeiten von Conny Bosch machen das bewusst. Da ist beispielsweise die vierteilige Serie mit dem Mädchen an und auf der Schaukel. Eine Foto-Erzählung, eine Inszenierung, aber eine Geschichte ohne Pointe. Weder sehen wir das Gesicht des Mädchens noch gibt es Andeutungen einer Dramatisierung. Die vier Ansichten des Mädchens haben etwas Beiläufiges. Mal lehnt das Kind an der Schaukel, mal scheint es abzuheben. Das Mädchen ist in sich selbst versunken. Eher scheint es vom Fliegen durch die Luft zu träumen, als dass es sich selbst energisch Schwung geben würde.

Die Fotoserie arbeitet eine Erinnerung auf, die in versunkenes Leben zurückführt. Sie beschwört einen Schwebezustand, in dem sich nur ein Kind bewegen kann, das sich unbeobachtet glaubt. Nun aber wird dieser Zustand mit Hilfe der Fotografie rekonstruiert. Wir empfangen knappe Signale, aber die genügen uns: Das Mädchen von der Seite und von hinten am Schaukelbrett, die Füße in den schwarzen Schuhen, von denen sich der eine vom Boden gelöst hat, und der träumerisch gesenkte Kopf des Mädchens.

Die Fotografie entdeckt nicht, sie holt zurück. Sie verleiht den Ahnungen und Erinnerungsfetzen handfeste Bilder. Sie schenkt uns jene Leichtigkeit, mit der wir uns für einen Moment aus der Realität entfernen können. Nun kann sich das erfüllen, was wir immer schon in uns wussten.

Kinderbilder als Bilder, die Kinder auf die Welt projizieren: Wer kennt das nicht, dass man eine Wolke oder einen Schneerest sah und die Erscheinung so sehr verlebendigte, dass aus der Wolke ein Tier oder aus dem Schneeflecken ein Kontinent wurde? Alles gewinnt auf einer anderen Ebene Sinn. Conny Bosch nimmt in einigen ihrer Arbeiten diese ins Fantastische führenden Assoziationen auf. Die leblose Dingwelt wird vital, Wolken, Wasser und Schnee suchen verwandtschaftliche Strukturen. Und wenn sie die unterschiedlichsten Bildbotschaften auf ausgeschnittene Spanplatten kopiert und so die Fotos in plastische Objekte verwandelt, dann erscheint der Raum der Kindheitserinnerungen als ein Puzzle, dessen Einzelteile nur bruchstückhaft zusammenpassen.

Aber auch das ist eine kindliche Art – in jeder Kreisform und in jedem Loch eine Linse oder eine Kugel, einen Ball, einen Mond oder einen Globus sehen zu wollen. Vor allem in ihren Fototagebüchern geht Conny Bosch mit großer Lust und Konsequenz daran, die Welt zu löchern oder weiße Kreisflächen in Monde zu verwandeln. Mit Hilfe der Montage und Collage setzt sie abstrakte Zeichen, um in der nächsten Arbeit die geometrische Form ins Konkrete und Fantastische umzudeuten. Conny Bosch arbeitet mit sparsamsten Eingriffen. Oft merkt man auf den ersten Blick gar nicht, welche Bildteile verändert oder eingefügt sind. Die Nahtstellen der Montage lösen sich bisweilen auf.

In den meisten Arbeiten jedoch bleibt die Bruchlinie in aller Schärfe erhalten. Zwei Ebenen stoßen wie Erdboden und Horizont hart aufeinander. Und ganz oft – wie in dem Bild, auf dem zwei einsame Badende auf einem unendlich leeren Strand zu sehen sind – dient der obere Bildteil als Horizont. In diesem Fall schiebt sich vor den weiten Himmel eine dichte ornamentale Fläche, ein Horizont, auf dem Flecken wie Blumen erblühen. Ein anderes Mal erscheint die mit regelmäßigen Lochreihen versehene Stuhlsitzfläche über dem Foto eines dicht bevölkerten Strandes wie das Bild eines Sternenhimmels.

Dieses Übereinanderschieben zweier Fotos und damit zweier Wirklichkeitsebenen ist im Laufe der letzten Jahre für Conny Bosch zu einer der wichtigsten Arbeitstechniken geworden. Aber so gleichartig die Strategien sind, so unterschiedlich sind die Wirkungen. Während die Fläche mit den blumenähnlichen Flecken eine vornehmlich ästhetische Verbindungslinie zur Malerei herstellt, wird die bewegte Wasserfläche, die an ein Karussell heranreicht, zur bedrohlichen Flut. Dann aber wieder entsteht eine spielerische Situation, wenn zwei Hände, die schattenhaft als Abdruck erscheinen, eine im oberen Bildteil fliegende Erdkugel aufzufangen versuchen.

Die Arbeiten lassen viel Platz für Erinnerungen und Fantasien. Manches bleibt im Ungewissen. Andere Bildkombinationen drängen zur direkten Deutung. Dann glauben wir, auf Anhieb die Botschaft zu verstehen – wie in jener Komposition, in der wir nackte Füße und Beine einer sonst nicht sichtbaren Gestalt sehen, die zwei mit Wasser gefüllte Plastikbeutel über dem dürren Boden hält. Die Wasserbeutel werden zur Verheißung, und der darüber montierte Himmel wird mit seinen Wolken zum Hoffnungsträger, denn er könnte Regen bringen.

Zwei Welten, die hart aufeinander stoßen, treten dank der Montage in Beziehung zueinander und schaffen eine neue, eine dritte Ausdrucksebene. Das bedeutet, dass Conny Bosch ihre Fotografien als beliebig einsetzbares Spielmaterial versteht, ohne dass die beiden Teile verfälscht werden. In einem ihrer Tagebücher hat Conny Bosch eine Tafel mit einem Zitat von Marcel Proust dokumentiert. Da ist zu lesen: Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern neue Betrachtungsweisen (Augen) zu gewinnen. Das leistet Conny Bosch. Mit neuen Augen lässt sie uns umherstreifen. Sie fügt Ansichten zusammen, die wir nur einzeln und isoliert sehen und verhilft uns damit zu neuen Einsichten, oder sie projiziert Formvorstellungen in Bilder hinein, die die Welt neu interpretieren helfen. Sie legt zarte Spuren, um uns auf eine andere Fährte zu bringen. Unmerklich werden wir aus der nüchternen Wirklichkeit in eine Welt der Poesie entführt – wie in jener Arbeit, in der in einem abgedunkelten Raum ein Mädchen unter einem Tisch sitzt und auf das schwarze Bullauge einer Waschmaschine schaut, während im unteren Bildteil aus der Schwärze der Nacht ein rundes weißes Licht, ein Mond, hervorstahlt.

Die Farben des Erinnerns müssen nicht bunt sein. Auch das Weiß als die Summe der Farben und das Schwarz als die Abwesenheit von Licht tragen den Farbenkosmos in sich. Wir müssen nur der Kraft der Erinnerung vertrauen, um die Poesie der Farben zu entdecken.

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