Erinnerungen, die sich nicht abschütteln lassen

Die über zehnjährige Diskussion über das Holocaust-Mahnmal hat die Hilflosigkeit unseres traditionellen künstlerischen Denkens und Planens in der Frage bewußt gemacht, wie angemessene und anspruchsvolle Zeichen der mahnenden Erinnerung gestaltet werden können. Wohl wissen wir seit langem, daß die Zeit der Künstler-Entwürfe für ehrende Denkmäler nahezu abgelaufen ist, dennoch basierten die Ausschreibungen für das Berliner Mahnmal und die sich anschließenden Debatten auf der Annahme, daß es nur eine Frage des Ortes, der Dimensionen und der richtigen Künstlernamen sei, um einen überzeugenden Entwurf zu erhalten. Dabei war die Größenvorgabe für das Gelände schon von zwei falschen Voraussetzungen ausgegangen. Die eine rührte von den noch für Bonn angedachten Plänen für ein Mahnmal her, die einfach darin bestanden, daß eine Hauptstadt ein repräsentatives Gedenkareal für offizielle Anlässe brauche. Die zweite hatte gutmeinend eine der Größe der Verbrechen entsprechende Ausdehnung im Sinn. Natürlich gibt es Künstler zuhauf, die groß und weiträumig planen, die viel Platz beanspruchen für ihre Werke. Aber für die wirklichen Dimensionen des Schreckens gibt es die Konzentrationslager; mit deren Ausmaßen kann sowieso kein Mahnmal konkurrieren kann.

Diese falschen Voraussetzungen liegen jedoch außerhalb der Kunst. Sie haben mit ihr direkt und ihren Möglichkeiten nur am Rande zu tun. Der entscheidende binnenkünstlerische Grund aber ist, daß keine schulmäßige Ästhetik des Mahnmals im öffentlichen Raum ausgebildet worden ist. Weder fällt es Künstlern schwer, Wände zu bemalen oder mit Reliefs zu versehen, noch sind sie verlegen, mit Architekten bei der Gestaltung von Fassaden und Plätzen zu wetteifern, oder vor öffentliche Gebäude plastische Zeichen zu setzen. Auch mangelt es nicht an überzeugenden Vorschlägen zur Entwicklung von Mahn- und Erinnerungsstätten in geschlossenen Räumen. Aber jedes Mal, wenn ein Entwurf für ein öffentliches Mahnmal gefordert wird, beginnt die Diskussion fast am Punkt null. Einer der Gründe dafür, ist die stillschweigende Vereinbarung, daß ein Mahnmal dadurch entsteht, daß man ein Bauwerk, eine Skulptur oder eine Summe von Zeichen erstellt und einem dafür auserwählten Platz hinzufügt. Diese Aufgabe ist, sofern sie sich nicht auf eine Gedenktafel beschränkt, schwierig, solange die Mahnmale zur Erinnerung an Opfer nicht Heldendenkmäler mit umgekehrten Vorzeichen sein sollen.

Das Problem liegt nicht nur darin, daß die Künstler spracharm und wortkarg sind, wenn solche öffentlichen Aufgaben anstehen. Genauso schwierig ist, daß die vorgeschlagene Lösung zwar ästhetisch überzeugen muß, daß aber nicht eine Ästhetik gewählt wird, die derart fasziniert, daß die Form Selbstzweck wird und damit die Opfer erneut geopfert werden.

Vor diesem Hintergrund hat Horst Hoheisel – zuerst allein und dann in Zusammenarbeit mit Andreas Knitz – eine künstlerische Strategie entwickelt, die sich prinzipiell von dem Denken absetzt, das auf die Errichtung von Zeichen zielt, und die genau da ansetzt, wo der Gedanke für den Wunsch nach einem Mahnmal geboren wurde – beim Verlust. Wo Menschen ihre Gesundheit, ihre Würde und ihr Leben verloren haben, wo Gemeinschaften und Kulturen zerstört und vernichtet wurden und wo die Gewalt vor den Dingen des Lebens nicht Halt macht, da ist unrettbar viel verloren gegangen. Also muß zuallererst der Verlust sichtbar gemacht werden.

Horst Hoheisel hat erstmals diesen Grundgedanken, wie an anderer Stelle ausführlicher dargelegt, beim Aschrottbrunnen vor dem Kasseler Rathaus realisiert: Den von den Nationalsozialisten zerstörten Brunnen stellte er als in den Boden eingelassene Negativform wieder her und machte so den erlittenen Verlust unübersehbar, ohne einen neuen Brunnen zu verweigern.

Die Verlust-Idee spitzte er zu, als er in der zweiten Stufe über einen eigenen Beitrag zum Berliner Holocaust-Mahnmal nachdachte. Da lief sein Vorschlag auf einen Opfertausch hinaus: Um die mahnende Erinnerung an die systematische Verfolgung und Vernichtung der Juden wachzuhalten, so meinte er, sollten sich die Berliner und Deutschland nicht ein künstlerisches Geschenk machen lassen, sondern selbst ein Opfer bringen. Also schlug Hoheisel vor, das im Nachkriegsdeutschland zum Symbol der Einheit gewordene Brandenburger Tor abzutragen und zu zermahlen. Abgesehen davon, daß dieser Vorschlag nicht ernsthaft in der Debatte erörtert wurde, hätte mit großer Sicherheit der Versuch, diesen Plan umzusetzen, sehr schnell die Grenzen der Opferbereitschaft aufgezeigt und einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.

Das mehrstufige Projekt „Zermahlene Geschichte“, das Horst Hoheisel und Andreas Knitz ab 1997 in Weimar umsetzten, ist ohne die beiden zuvor erwähnten Konzepte nicht denkbar. Allerdings waren die in Weimar vorgefundenen Bedingungen ganz anders, so daß das Sichtbarmachen des Verlustes in völlig veränderten Bahnen verläuft. Denn während in Berlin niemand das Brandenburger Tor aufzugeben bereit gewesen wäre, stand der Abriß an die ehemalige Gestapo-Baracke sowie des Gefängnisbaus im Innenhof des Weimarer Marstalls fest. Beide Gebäude behinderten den Bau eines Tiefenmagazins im Hofbereich und waren zudem so wenig attraktiv und so sehr baufällig, daß ihre Beseitigung geraten schien. Allein die Tatsache, daß diese beiden Bauten Orte des Terrors gewesen waren, verlieh ihnen Bedeutung und ließ für kurze Zeit den Gedanken an ihre Erhaltung aufkeimen. Es handelte sich bei ihnen schließlich um „natürliche“ Mahnmale an den NS-Terror, aber auch an die Gewaltherrschaft der Sowjets bis 1950 von diesen Gebäuden aus. Ihre ausgesprochene Häßlichkeit steigerte die Wirkung der Erinnerungskraft, beförderte aber auch die Pläne zu ihrer Beseitigung. Immerhin hatten die Verantwortlichen rechtzeitig erkannt, daß man die Gebäude nicht spurlos verschwinden lassen sollte und einen künstlerischen Wettbewerb zur Neugestaltung des Innenhofs mit dem Ziel der mahnenden ausloben sollte. Das war ein großer, ein mutiger Schritt, weil dadurch im Vorfeld des Kulturstadtjahres die Auseinandersetzung um die Rolle Weimars während der Nazi-Zeit ins Zentrum der Stadt geholt wurde.

Wahrscheinlich hätten sich manche der Beteiligten eine schnellere und einfachere Lösung gewünscht. Die hätte in etwa lauten können: Die ehemalige Gestapo-Baracke und das frühere Behelfsgefängnis werden beseitigt und nach dem Bau des Tiefendepots wird ein mahnendes Zeichen angebracht. Ein solches Vorhaben wäre relativ lautlos über die Bühne gegangen, wobei der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Abriß und dem daran erinnernden künstlerischen Zeichen verloren gegangen wäre. Das Spannende an dem Vorschlag von Hoheisel und Knitz ist, daß er zu prozessualen Denken und Handeln zwingt. In jeder Phase bleiben die Erinnerung und die materielle Existenz der zu Mahnmalen gewordenen Bauten präsent und virulent. Der rettende Sprung vom Ausradieren der Schandbauten, mit denen sich unzählige individuelle Schicksale verbinden, zum relativ abstrakten und anonymen Mahnmal blieb versagt. Die Beteiligten und die Öffentlichkeit wurde in jede Phase eingebunden.

Die von den beiden Gestaltern erhobene Forderung, den geplanten Abriß nicht als eine Form von Entsorgung zu vollziehen, sondern öffentlich zu machen, klingt im ersten Moment banal. Sie bildet aber das Fundament des gesamten Gestaltungsprozesses, in dessen Verlauf zu jedem Zeitpunkt bewußt bleibt, mit welchem Schutt man da umgeht. Das Bekenntnis zu der Vergangenheit wird auf diese Weise nicht zu einem Akt, den man einmal im Jahr vollzieht, sondern für diejenigen, die in den Gebäuden des Marstalls arbeiten und die als Besucher des Thüringischen Hauptstaatsarchivs dorthin kommen, zu einer in den Alltag hineinwirkenden Herausforderung. Und es ist bewundernswert, wenn man erlebt, wie intensiv einzelne Archivmitarbeiter sich dieser Herausforderung stellen.

Was bei dem Konzept für das Brandenburger Tor wie eine Freveltat erschien, fügt sich bei dem Weimarer Projekt zu einem geradezu logischen Schluß: Die beiden Mahnmal-Bauten, die der Erweiterung weichen mußten, werden nicht abgerissen und dann als Bauschutt weggeschafft, sondern sie werden recycelt. Der Vorschlag nämlich, den Schutt zu schreddern, um ihn später an Ort und Stelle wieder auszubreiten und als Bodendecker zu benutzen, war und ist genial. Denn auf diese Weise werden – wenn auch in anderer Form – die beiden Bauten erhalten. Und mit jedem Gang über das Feld aus zermahlenem Schutt bleibt die Erinnerung an die Vergangenheit, als feiner Staub an den Schuhen hängen, den man nicht einfach abschütteln kann. Aber auch die räumliche Struktur der verschwundenen Bauten geht nicht ganz verloren: Auf dem Hofgelände sind schon in der Umbauphase und werden erst recht danach im Boden die Grundrisse an den früheren Standorten markiert.

Hoheisel und Knitz haben viel Kraft und Zeit in das Projekt investiert. Das ermöglichte ihnen, selbst auch immer wieder auf den prozesshaften Verlauf zu reagieren, Korrekturen vorzunehmen und Ergänzungen vorzuschlagen. Das läßt sich etwa bei der Präsentation der beiden Container ablesen, die wie zwei große Objekte gegenüber dem Schloß vor dem Marstall stehen. In diesen Containern werden große Teile des zermahlenen Schutts solange aufbewahrt, bis der Ausbau abgeschlossen ist, der Innenhof ein neues Fundament bekommen hat und der Schutt als Bodendecker ausgebreitet werden kann: Die hochstellbaren Containerdeckel wurden mittlerweile verspiegelt, so daß dann, wenn die Deckel geöffnet sind, die Passanten sehen können, was in den Containern liegt. Außerdem ist – bei geöffnetem Deckel – in einem Container ein Video von den Abriß- und Schredderarbeiten zu sehen. Auf diese Weise ist es Hoheisel und Knitz gelungen, die Durststrecke vom Abriss bis zum Aufbringen der zermahlenen Trümmerschutts zu einer derart intensiven Erinnerungsphase zu machen. Dabei haben die verspiegelten Container einen eigenen künstlerischen Charakter gewonnen. Fast bedauert man, daß die Container eines Tages verschwinden und aus den Erinnerungsbehältern Erinnerungsfelder werden. Dafür aber kommen diejenigen, die darüber laufen, direkt mit der Vergangenheit in Berührung.

Nicht weniger wichtig ist, daß Hoheisel und Knitz vor dem Abriß aus den beiden Gebäuden Türen, Fenster und alle möglichen Fundstücke entfernten und sie sicherstellten. Kleinere Dinge sammelten sie in den gängigen Archivkisten, andere Objekte plazierten sie nach Kriminalistenart in Plastikbeuteln, die nun in einem Raum an Leinen hängen, und schließlich legten sie für größere Dinge kleine Depots an. Jedes einzelne Objekt hat für sich keinen großen Erkenntniswert, auch legen nur wenige Fundstücke im Sinne eines Mahnmals Zeugnis ab von vergangenem Terror. Mit diesen Sammlungen verfügen Hoheisel und Knitz über einen großen Vorrat an authentischem Material, mit dem sich immer wieder in neuen Zusammenhängen operieren läßt.

Diese Originalzeugnisse erlaubten ihnen, Räume in dem Marstallkeller zur Erinnerung an die Gestapoarbeit mitzugestalten. So ist eine museale Erinnerungsstätte in dem Keller entstanden, in dem die direkte Verbindung zwischen Weimar, der Gestapo-Arbeit und den Fundstücken hergestellt wird. Das Erschreckende an den Objekten (wie auch an den meisten Menschen, die ihren Dienst in der Gestapo ausübten), ist das Gewöhnliche, das Normale. Die Ausnahmesituation war kein Produkt von Ausnahmemenschen.

„Die Schwierigkeit, sich zu erinnern“ überschreiben Hoheisel und Knitz ihr Weimarer Projekt „Zermahlene Geschichte“. Sie sind noch auf dem Weg zum Ziel und daher sind weitere Facetten möglich. Aber gerade diese Arbeit zeigt, daß die Schwierigkeit, sich zu erinnern, keine ist, wenn man sich dem Naheliegenden stellt und nicht die fühlbaren Zeugnisse beseitigt, um sich hinterher zu abstrakten Zeichen zu flüchten. Insofern ist „Zermahlene Geschichte“ nicht nur die prozesshafte Anfertigung eines Mahnmales, sondern ein Beitrag zur Entwicklung einer Ästhetik für die Mahnmal-Kultur.

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