Die drei Leitmotive

Das Ende einer Vision
Die documenta fragt die Welt und die Kunst, ob die Moderne unsere Antike ist und gibt selbst eine Antwort

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff modern positiv besetzt. Als modern gilt, wer auf der Höhe der Zeit lebt. Dementsprechend denkt man an erneuern und verbessern, wenn man von modernisieren spricht. Bewegt man sich in geistesgeschichtlichen Zusammenhängen, wird der Begriff der Moderne auf das Zeitalter nach der Aufklärung (spätes 18. Jahrhundert) bezogen. Da diese Erleuchtung des Geistes aber nicht nur Klarheit bewirkt hat, sondern auch Schreckensszenarien wie die Unterwerfung fremder Völker (Kolonialisierung), den Faschismus und den Holocaust, ist das Konzept der Moderne fragwürdig geworden.
Die Schattenseiten sind mitgedacht, wenn die documenta 12 die Frage nach der Moderne aufgreift. Im Sinne vieler Denker stellt sie die These zur Diskussion, die Moderne sei längst an ihr Ende gekommen; ihre Trümmer lägen nun vor uns wie die Ruinen der antiken Kulturen.
Georg Schöllhammer, der für die documenta 12 das weltweite Zeitschriftenprojekt betreut, hat die Erfahrung gemacht, dass sich viele Künstler in ihren Arbeiten mit der Frage nach den Folgen der Moderne beschäftigen. Denn in dem Begriff verbirgt sich der dauernde Widerspruch des Lebens: auf der einen Seite die Hoffnung auf Vernunft und Menschlichkeit, auf der anderen Seite die Lust an Unterdrückung und Gewalt. Wie wir aus der jüngsten Geschichte und auch aus den Bildern und Filmen der Documenta 11 wissen, gibt es zahllose Künstler, die die Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung sowie der Sehnsucht nach Freiheit verarbeiten.
Für Schöllhammer war die Moderne ein Herrschaftsprojekt. Aber auch dann, wenn sie am Ende und als Vision zerbrochen sei, schaffe es die bürgerliche Welt immer wieder, sich aus den Trümmern eine neue Vorstellung von der Moderne zu gestalten.
Nun ist die Moderne aber ein abendländischer Begriff. Wie wird also diese westliche, europäische Fragestellung in Afrika, Lateinamerika oder Asien verstanden? Nach Schöllhammers Ansicht gibt es dort ein Grundverständnis und parallele Denkweisen. Allerdings gebe es je nach kultureller Zugehörigkeit unterschiedliche Vorstellungen von dem, was Moderne sei. So stehe China derzeit vor dem Problem, dass das Land wirtschaftlich und technologisch in ein Land der Moderne übergehe, dass diese Entwicklung aber nichts mit der kulturellen Tradition zu tun habe. Die Individualisierung, die ein zentrales Merkmal der abendländischen Moderne sei, spiele in China keine Rolle.
Schwierig sei das Gespräch über die Moderne auch mit einem Teil der arabischen Welt, weil dort die Basis für eine weltliche Diskussion verloren gegangen sei. Folglich werde man gezwungen, sich mit theologischen Argumenten auseinander zu setzen.
Für das documenta-Team ist es angesichts der Tatsache, dass es so viele Vorstellungen von Moderne gebe, wichtig, die Frage auf die lokale Ebene zu beziehen. Dort werden die Vorstellungen anschaulich, wie es Buergel und Schöllhammer sehen. Die Widersprüchlichkeit, die sich aus der Moderne ergeben hat, sei vor Ort ganz leicht auszumachen: Der Stadtteil, in dem die Universität Kassel als Hort der Zukunftsforschung beheimatet ist, droht sozial abzurutschen.
HNA 7. 8. 2006

Wenn es um die nackte Existenz geht
Frage der documenta 12 an die Welt und die Kunst: Was ist das bloße Leben? – Ein Leitbegriff

In diesen Tagen sind wir wieder Zeugen bitteren Leids. Der vierwöchige Krieg der Israelis gegen die Hisbollah im Libanon zerstörte zahlreiche Familien und machte hunderttausende zu Flüchtlingen, die nun in ihre zerstörten Städte und Dörfer zurückkehren. Einige von ihnen haben alles verloren und sind buchstäblich auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen worden.
Für die Beschreibung und Auseinandersetzung mit solchen fundamentalen menschlichen Situationen hat sich in der Philosophie und Soziologie – anknüpfend an Walter Benjamin und Giorgio Agamben – der Begriff „bloßes Leben“ durchgesetzt. Er wird immer dann benutzt, wenn es um die Grundbedingungen der Existenz geht und um den Sinn.
Roger Buergel hat für die Vorbereitung der documenta 12, die im kommenden Sommer in Kassel stattfindet, die Frage „Was ist das bloße Leben?“ zu einem seiner drei Leitmotive gemacht. Das bedeutet, dass er die Frage nach der heutigen Kunst aufs Engste mit der Frage nach den Bedingungen des Lebens verknüpft sieht. In einem Interview hatte Buergel einmal gesagt, dass das Verhältnis von Kunst und Politik heute dem entspreche, was im 18. Jahrhundert das Verhältnis von Kunst und Natur gewesen sei. Daraus ist zu folgern, dass es heute in der Kunst nicht mehr nur darum geht, die uns umgebende Natur (Wirklichkeit) zu spiegeln, sondern auf die gesellschaftlich-politischen Zustände und Entwicklungen zu reagieren.
Georg Schöllhammer, der zum documenta-Team gehört und das internationale Zeitschriftenprojekt betreut, sieht die Frage nach dem bloßen Leben aber nicht nur in Bezug auf spektakuläre Kriegssituationen. Genauso gehe es um den Schichtarbeiter, der erfährt, dass er mit einer Abfindung aus seinem Arbeitsverhältnis entlassen werden soll.
Schöllhammer betont in dem Zusammenhang allerdings, dass keineswegs nur an eine apokalyptische Weltschau gedacht sei. In der Rückbesinnung auf das „bloße Leben“ könne auch eine Chance zur Freisetzung und zu einem Neuanfang liegen.
Entscheidend sei, dass das Infragestellen der Existenz und der persönlichen Verfasstheit mit aller Schärfe geschehe. Nur so könne man auch zu weiterführenden Antworten finden. Die documenta selbst wird die Besinnung auf das „bloße Leben“ voraussetzen. Denn sie will keine politischen oder philosophischen Erkenntnisse abbilden, sondern vorführen, wie die Künstler der Welt mit dieser Frage umgehen.
HNA 16. 8. 2006

Die Vermittlung im Zentrum
Frage der documenta 12 an die Welt und die Kunst: Was tun? – Problem der Bildung

Mehrfach hat sich die documenta in den 70er- und 80er-Jahren den Vorwurf gefallen lassen müssen, für die Vermittlung der präsentierten Kunst zu wenig getan zu haben. Schließlich, so hieß es, kämen ja nicht nur Kunstexperten zu der Ausstellung.
Die kommende documenta wird möglicherweise in dieser Hinsicht ein neues Kapitel eröffnen. Sie will die Vermittlung nicht bloß als ein Beiprogramm (Führungsangebote) gestalten, sondern ins Zentrum stellen und zu einem Teil der Ausstellung machen. Das kommt nicht von ungefähr, denn Roger Buergel wurde auch deshalb zum künstlerischen Leiter der documenta 12 berufen, weil er wie kaum ein Zweiter die Art und Weise des Ausstellungsmachens zum Thema seiner kuratorischen Arbeit erkoren hat.
Nun könnte man leicht daraus schließen, damit drehe sich die Ausstellung um sich selbst und vernachlässige die Welt und die Kunst. Doch es soll genau umgekehrt sein: Die documenta 12 soll sich der Welt und ihrer brennenden Fragen widmen.
Wie aber kommt man von diesem Vorsatz zur Kunst und zur Vermittlung? Aus Buergels Sicht liegt die Antwort auf der Hand: Indem die Künstler die Probleme der Welt aufgreifen und mit ihren künstlerischen Mitteln darauf reagieren, leiten sie den Prozess der Vermittlung ein. Anders ausgedrückt: Jedes Kunstwerk ist die Antwort auf die Frage, wie man Geschichten lesbar und anschaulich mache.
So versteht sich das dritte Leitmotiv der documenta 12, das in die Frage „Was tun?“ gekleidet ist, als der Zugang zu einem umfassenden Bildungsprozess. Die Bildung beginnt demnach damit, dass sich Künstler kritisch und schöpferisch mit den Zuständen der Welt auseinander setzen. Der Prozess setzt sich fort mit der Auswahl und Präsentationsweise der künstlerischen Arbeiten. Und der Bildungsgang erfasst schließlich auch die Besucher der Ausstellung, die sich mit den Werken beschäftigen und jenseits der direkten Begegnung mit den Arbeiten sich Gedanken machen über die Inhalte und Formen. In dieser Bildungskette können zudem Erfahrungen gewonnen werden, die bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben helfen. Das bedeutet: Buergel und sein Team sehen die Kunst nicht als einen für sich bestehenden Kosmos oder gar als ein schmückendes Beiwerk, sondern als einen Teil des Lebens und der Wahrnehmung. Die Kunst eröffnet einen neuen Zugang zur Welt.
HNA 23. 8. 2006

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