Roger Buergel und Ruth Noack gaben erste Einblicke in die documenta 12
KASSEL. Der künstlerische Leiter der documenta 12, Roger M. Buergel (Jahrgang 1962), hat das sich alle fünf Jahre wiederholende Ratespiel um die Künstlerliste in heiterer Form aufgenommen. Auch er legt die Künstlerliste nicht vor, zumal sie noch nicht abgeschlossen ist. Doch er reichte in der gestrigen Pressekonferenz im Fridericianum in Kassel erste Kostproben aus dem Ausstellungsprogramm, indem er zwei Künstler in Wort, Bild und Ton vorstellte – und zwar den ersten und den letzten aus der alphabetisch angelegten Liste.
Der erste ist ein Spanier, den viele Gourmets kennen, der in Barcelona lebende Koch Ferran Adrià (Jahrgang 1962). Adrià ist für Buergel nicht nur ein ungewöhnlicher Koch, der Speisen lieber einmal für einen Supermarkt zubereitet als für die Superreichen, sondern auch ein Künstler, der in Grenzgebiete vorstößt. Zur Illustration ließ Buergel Fotos außergewöhnlicher Speisen (weiße Schokolade mit schwarzen Oliven oder Safran-Soja-Reis mit Muscheln) projizieren, die die Speisen wie Kunstprodukte vorstellten. Der documenta-Leiter betonte, dass sie noch daran arbeiten würden, in welcher Form Adriàs Werke präsentiert werden.
.Der andere Künstler, der durch Buergels Frau und Partnerin bei der Ausstellungsvorbereitung, Ruth Noack, vorgestellt wurde, ist der Pole Artur Zmijewski (Jahrgang 1966). Zmijewski arbeitet mit Fotografie und Film sowie Musik. Immer wieder geht es ihm darum, Menschen, die Verfolgungs-Opfer waren oder mit Behinderungen leben, in Produktionen einzubeziehen und ihnen so zu Kreativität und Würde zu verhelfen. In diesem Fall erarbeitete er in Leipzig gemeinsam mit einem Barock-Ensemble und einem Chor für Gehörlose und Schwerhörige die Aufführung einer Bach-Kantate . Von einer CD wurde eine ergreifende Hörprobe vorgespielt, die deutlich machte, dass das Konzert zwischen konzentrierter Darbietung und Chaos schwankte.
Noch zwei weitere Künstler wurden präsentiert – die Liverpoolerin Imogen Stidworthy und Ricardo Basbaum. Beide sind im Vorfeld der Ausstellung einbezogen und arbeiten in Kassel mit einem 45-köpfigen Forum zusammen, das die Fragestellungen des documenta-Teams verortet und die Antworten an das Team zurückgibt. Sprecherin des Teams ist Ayse Gülec vom Kulturzentrum Schlachthof, das eine besonders gute Basis dafür ist, um die Probleme der Migration, Integration und Leitkultur, die weltweit zur Debatte stehen, zu erörtern.
Buergel und Noack wollen versuchen, bei der nächsten documenta nicht mehr als 100 Künstler zu präsentieren. Lieber wollen sie, wie bereits Buergel vor einiger Zeit zu unserer Zeitung im Gespräch sagte, von den einzelnen Künstlern mehrere Werkkomplexe zeigen, um verschiedene Aspekte sichtbar zu machen und die Arbeiten zueinander in Beziehung setzen zu können. Das Prinzip der Ausstellung soll dialogisch angelegt sein.
Buergel bekennt sich zur documenta als einer Bildungseinrichtung. Dementsprechend wird Catrin Seefranz (Jahrgang 1971) nicht nur Leiterin der Pressestelle sein, sondern auch die Zuständigkeit für die Vermittlungsarbeit übernehmen. Seefranz war zuvor für die Kommunikation beim Wiener Filmfestival Viennale zuständig
Ebenfalls aus Wien kommt Martha Stutteregger, die das grafische Erscheinungsbild der documenta gestalten soll. Von ihr stammt das Logo, das dadurch auffällt, dass es den Namen Kassel und den Ausstellungszeitraum enthält. Zentraler Blickfang aber ist die Schreibweise der Zwölf in Form von simplen Zählstrichen.
.HNA 22. 2. 2006
Kommentar: Aufbruch zu neuen Ufern
Wie wird die nächste documenta wird? Die Antwort kann wohl erst in 16 Monaten gegeben werden. Doch seit langem gab es nicht mehr ein Jahr vor Ausstellungsstart eine Pressekonferenz, in der so viel Konkretes zur inhaltlichen Vorbereitung gesagt worden ist wie jetzt. Man kann den Charakter der kommenden Kunstschau erahnen.
Natürlich ist die Geschichte mit den ersten beiden Künstlernamen ein Witz. Mit ihm reagiert das documenta-Team in souverän-satirischer Weise auf die immer gleichen Fragen nach den eingeladenen Künstlern. Dennoch ist die Nennung auch mehr als ein Witz. Roger Buergel und seine Frau Ruth Noack, die gemeinsam die Ausstellung planen, haben damit eine Vorstellung davon gegeben, wie sie sich dem Ereignis des Sommers 2007 nähern: Sie stoßen in Grenzzonen vor und wählen Künstler aus, die auf alltägliche Aufgaben und Fragestellungen mit sinnlichen Mitteln reagieren.
Die Hörprobe des Polen Artur Zmijewski und die Fotos des Spaniers Ferran Adrià sind Belege dafür, dass es nicht um Theorien gehen wird, sondern um körperliche Erfahrungen, die auf die Realität zurückverweisen.
Noch ist nicht überschaubar, wie global die Ausstellung schließlich wird. Klar ist nur, dass die documenta 12 eine Weltausstellung sein wird, die die Globalisierung als bekannt voraussetzt und deshalb sich nicht darin erschöpfen wird, hier und da exotisch erscheinende Künstler zu präsentieren. Sie hat es sich vielmehr zur Aufgabe gemacht, die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen in ihrer jeweiligen regionalen oder lokalen Bedeutung aufzuspüren und danach zu suchen, wie Künstler mit ihnen umgehen.
Das heißt, dass wir möglicherweise aus zahlreichen unterschiedlichen Perspektiven künstlerische Antworten auf die Frage nach dem Umgang mit Integration und Migration erhalten werden. Die Kunst wird zurückgeführt auf das einfache menschliche Maß. Dazu passt auch das Logo, das natürlich mehr als gewöhnungsbedürftig ist: Nicht die glatte, marktgängige Form ist zu sehen, sondern die primitive Zeichensprache.
HNA 22. 2. 2006