Eine verpasste Gelegenheit

documenta-Leiter Roger M. Buergel diskutierte auf dem Soziologenkongress

Kassel. Sind der Wunsch nach Schönheit und das Zurückgeworfensein auf das nackte Überleben vereinbar? Zu der im Raum stehenden Frage lieferte ein Redner ein anschauliches Beispiel: Die Eingeschlossenen von Sarajewo hätten 1991 neben Lebensmitteln auch Kosmetika und Schmuck gewünscht, um in Würde und Schönheit den Heckenschützen entgegentreten zu können. Roger Buergel, der Leiter der documenta 12, reagierte spontan und meinte: „Ich fühle mich wunderbar verstanden.“
Buergel hatte nämlich erklärt, dass er mit dem documenta-Leitmotiv „bloßes Leben“ nicht nur die Existenzbedrohung meine, sondern auch die Chance zur Freiheit. Auch hatte er das Zusammentreffen von Schrecken und Schönheit in einer künstlerischen Arbeit nicht ausschließen wollen. Ja, mit Nachdruck verteidigte er das Widerständige der Kunst und seinen Anspruch, dass die Rätselhaftigkeit der Kunst auch in der Ausstellung erhalten bleiben müsse.
So hätte also die Diskussion über das „bloße Leben“ in dem Soziologenkongress in Kassel nach Buergels zustimmender Erkenntnis richtig beginnen können. Aber genau in dem Augenblick wurde sie für beendet erklärt. Die drei Soziologen auf dem Podium, Karl-Siegbert Rehberg, Dirk Baecker und Heinz Bude, hatten offenbar keine Lust mehr, näher darauf einzugehen.
So wurde die Diskussion, in der viel um Begriffe gestritten wurde, zur verpassten Gelegenheit. Denn noch nie zuvor hatte sich eine documenta in ihrem Vorfeld so nah an den Fragen der Soziologie bewegt wie die kommende. Man hätte sich also gut darüber unterhalten können, ob und wie wissenschaftliche Analysen und intuitive künstlerische Arbeiten zu den aktuellen Fragestellungen in Beziehung zueinander gebracht werden können. Stattdessen wurde darüber gestritten, ob der VW-Arbeiter, dem ein Auflösungsvertrag angeboten wird, schon oder nicht mehr ein Problem des „bloßen Lebens“ sei.
Man ahnte zuweilen eine thematische Nähe, etwa als Baecker erkannte, dass die documenta kein Landeskirchentag sei, der Zuspruch zu vermitteln habe. Aber auch Buergel war allem Anschein nach nicht besonders interessiert, sich jenseits der gestellten Fragen zu erklären. Das hatte er schon zu Anfang durch seine Sitzhaltung signalisiert: Bei den Eröffnungsworten lehnte er sich abwendend so weit zurück, dass man fürchten musste, er werde in der Horizontalen landen.
HNA 12. 10. 2006

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