Exotische Schönheiten auf dem Teller

Ferrán Adrià gilt als der Superstar unter den Avantgarde-Köchen – und ist zur documenta eingeladen

KASSEL. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ahnt Unheil. In Kassel, so steht in ihr zu lesen, drohe die Boulevardisierung der Kochkunst. Gleichzeitig wird die Befürchtung geäußert, documenta-Leiter Roger Buergel habe nichts von der Arbeit des spanischen Kochs Ferrán Adrià verstanden, wenn er dessen Schöpfungen als optische Kuriositäten präsentiere.
Nun gibt es Schlimmeres, als wenn exotische Schönheiten auf dem Teller vorgestellt werden, die einen weniger an Essen als vielmehr an zerbrechliche Skulpturen oder Malerei denken lassen. Wer hätte etwas gegen Schönheit? Außerdem stimmt der Vorwurf nicht ganz, die Kunstszene habe sich noch nicht ernsthaft mit dem Kochen beschäftigt. Das hat sie schon getan, bevor uns die Koch-Shows im Fernsehen überrollten. Daniel Spoerri, Künstler und zeitweise Restaurantbetreiber in Düsseldorf, versuchte in den 60er-Jahren die Eat-Art zu propagieren. 20 Jahre später erregte in Frankfurt der Filmemacher Peter Kubelka Unmut, weil er seine Professur an der Städel-Kunsthochschule dazu nutzte, um Kochen zu lehren. Und schließlich kochte Matthew Ngui während der documenta X für die Besucher.
Nun wird Buergel den 43-jährigen Superstar unter den Avantgarde-Köchen nicht nur deshalb eingeladen haben, weil die Aufnahmen von dessen Gerichten wunderschöne Bilder ergeben oder weil der Leiter der documenta IX, Jan Hoet, sich in dessen Restaurant „El Bulli“ hat filmen lassen. Ihm geht es um mehr. Er will, wie er in der Pressekonferenz unterstrich, Kunst außerhalb der spezifischen Medien erkunden. Gleichzeitig ist er aber auch daran interessiert, Kunstäußerungen zu spiegeln, in denen sich gesellschaftliche Prozesse manifestieren.
Ferrán Adrià ist eine Ausnahmefigur. Er wird gern als Kochkünstler bezeichnet, versteht sich selbst aber wohl kaum als Künstler, sondern als Forscher und Experimentator. Sein nördlich von Barcelona gelegenes Restaurant, für das es lange Wartelisten gibt (Menu 30 Gänge, 150 Euro), ist nur fünf bis sechs Monate im Jahr geöffnet, weil Adrià sich gern in sein Labor zurückzieht, wo er ausprobiert, wie er gepresste Gemüsesäfte in ihrer Farbigkeit erhalten und in Form bringen kann oder wie er Karamell aus Kürbisöl herstellt. Der gelernte Betriebswirt Adrià ist ein Koch, der mit seinen Kompositionen eine eigene ästhetische Qualität geschaffen hat. Zuweilen löst sich bei ihm die Speise in luftige Gebilde auf, sodass er die Grenze zum Immateriellen erreicht.
Diese Gratwanderung reizt Buergel ebenso wie Adriàs Wunsch, nicht nur für die reichen Gourmets da zu sein, sondern gelegentlich auch für die Kunden im Supermarkt zu kochen. Der Spanier, der als eine Mischung aus Dalì und da Vinci beschrieben wird, unterläuft die überkommenen Regeln der Kochkunst in mehrfacher Weise. Während seiner mehrmonatigen Vorbereitung der Ausstellung „Die Regierung“ in Barcelona hatte Buergel den Koch näher kennen lernen können. In welcher Form Ferrán Adriàs Arbeit in die documenta 12 einbezogen wird, steht noch nicht fest. Aber es wäre merkwürdig, wenn er anlässlich seiner Ausstellungsbeteiligung in Kassel nicht auch mal kochen würde. Internet: www.elbulli.com
HNA 25. 2. 2006

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