Mit Maria Eichhorn korrespondieren

Zwölf Anmerkungen zu einer Ausstellung

1. Neben meinem PC liegt die Einladung des Kasseler Kunstvereins. Sie ist eine ständige Erinnerung daran, dass ich die Aufforderung zur Korrespondenz mit Maria Eichhorn nicht aus den Augen verliere. Außerdem habe auf diese Weise immer die E-Mail-Adresse vor mir.
2. Wann, so frage ich mich, habe ich mich schon einmal so intensiv und anhaltend mit einer Ausstellung beschäftigt? Gut, von der jeweiligen documenta, mit der ich mich fortlaufend, zuletzt nahezu täglich, auseinander setzte, muss ich absehen. Unter den Einzelausstellungen jedoch war bisher keine, die mich dazu brachte, mich immer wieder ihr zuzuwenden, sie gleich mehrfach zu besuchen. Auch dann nicht, wenn ich sie als herausragend empfand.
3. Mein verändertes Verhalten wird durch die ungewohnten Bedingungen der Ausstellung bestimmt. Wohl hat die Ausstellung ihren festen Ort im Kasseler Kunstverein, auch ist die Laufzeit vom 30. August bis 23. November klar eingegrenzt. Aber da der Gegenstand der Ausstellung die Korrespondenz mit Maria Eichhorn ist, realisiert sie sich erst im Korrespondieren.
4. Die Ausstellung als Korrespondenz. Ein ungewöhnliches Projekt. Aber nicht ungewöhnlich genug, dass Google auf dieses Stichwort hin nicht Dutzende von Homepages anbieten würde. Eine findet mein Interesse und scheint ergiebig. Sie führt zwar nicht zu dem Eichhorn-Projekt, sie verdeutlicht aber, dass wir in einen Bereich vordringen, in dem sich schon andere aufhalten. Unter der Internet-Adresse www.haller.unibe.ch/akor_d.html stoße ich auf einen Verweis auf die Ausstellung „Ferngespräche“, in der die 17000 Briefe umfassende Korrespondenz des Universalgelehrten Albrecht von Haller (1723-1777) vorgestellt wurde. Haller wird da als der erste wissenschaftliche Networker charakterisiert, der im 18. Jahrhundert als Einzelperson ein „Leben im Netz“ praktiziert habe. Bei aller gedanklichen Nähe darf die Differenz nicht übersehen werden: In „Ferngespräche“ wurde eine umfangreiche Korrespondenz ausgewertet, in korrespondenz@maria-eichhorn.de jedoch entsteht erst die Korrespondenz im Vollzug der Ausstellung.
5. Mit einer Ausstellung verbinden wir feste Vorstellungen. Wir denken an einen konkreten Ort, und wir denken an Räume, in denen visuelle Erfahrungen ermöglicht werden. Nun, der Ort ist gegeben – es sind die Räume des Kasseler Kunstvereins im Fridericianum. Dort liegen zur Bekräftigung die Einladungskarten aus, zudem hängt im Portikus die Fahne mit dem Titel von Maria Eichhorns Projekt. In einer Antwort auf meine Frage nach dem Ortsbezug schrieb Maria Eichhorn, dass das Versenden der Einladungen sowie die Wohn- und Arbeitsräume derjenigen, die an der Korrespondenz teilnehmen, ebenfalls als Räume der Ausstellung gedacht werden können.
6. Ich versuche, mir das zu veranschaulichen. Jede einzelne Korrespondenz, die Maria Eichhorn während der Ausstellung mit einem Mitglied/Besucher des Kasseler Kunstvereins führt, stelle ich mir als ein Dreieck vor, das sich aus dem Verhältnis Kunstverein-Eichhorn-Besucher ergibt. So ist das ganze Projekt als eine Vielzahl von Dreiecken vorstellbar, die alle eine deckungsgleiche Seite (Kunstverein-Eichhorn) haben.
7. Als nach der Verleihung des Bode-Preises absehbar war, dass Maria Eichhorn im Kasseler Kunstverein gastieren würde, war zu erwarten, dass man einem außergewöhnlichen Ausstellungsereignis entgegen sehen dürfte. Die Realisierung der Ausstellung auf der E-Mail-Basis ist allerdings eine unerwartete Herausforderung. Obwohl sie nur elektronisch gestützt funktioniert, ist sie keine virtuelle Ausstellung. Denn sie bildet nicht etwas Reales ab, sondern sie entsteht durch den Austausch der E-Mails. Damit führt sie weg von jeglicher bildnerischen Projektion. An die Stelle von Bildern, Objekten und Installationen treten Texte, die möglicherweise die Besonderheit dieses Projekts zum Inhalt haben. Mich jedenfalls beschäftigen in der Korrespondenz die Vorstellungen, die man mit dem Projekt verbinden kann.
8. Trotzdem bleibt der räumliche Bezug wirksam. Vor allem diejenigen, denen die Kunstvereins-Räume vertraut sind, beziehen Maria Eichhorns sich in der Korrespondenz realisierende Ausstellung auf den konkreten Ort. Der allerdings, das war überhaupt die Voraussetzung für das Projekt, ist durch die Werke der Ausstellung „In den Schluchten des Balkan“ besetzt. Ich kann mich nicht davon befreien, dass ich, wenn ich diesen Teil der Balkan-Ausstellung durchlaufe, unter, über oder zwischen den Bildern und Objekten Maria Eichhorns Projekt durchscheinen sehe – nicht als eine irgend geartete bildliche Vorstellung, sondern als ein Konzept, das an den Ort gebunden ist, das seine Verwirklichung aber auf einer anderen Ebene erlebt.
9. Einen ähnlich radikalen Ansatz im Umgang mit Ausstellungen hatte 1972 Joseph Beuys vorgeführt. Die Einladung zur documenta 5 hatte er dazu genutzt, 100 Tage lang mit den Besuchern über seine Vorstellungen von direkter Demokratie durch Volksabstimmung zu reden. An die Stelle des Werkes traten das Wort, der Gedankenaustausch, die Diskussion. Sprachlosigkeit hingegen provozierte in diesem Jahr Santiago Sierra in der Biennale von Venedig, wo er den spanischen Pavillon in eine Baustelle verwandelte und ihn nur für die Besucher zugänglich machte, die einen spanischen Pass besaßen.
10. Maria Eichhorns Projekt ist im Vergleich dazu still und unspektakulär, aber in seiner Radikalität unglaublich konsequent. Sie verweigert nicht die Ausstellung, sondern lädt zur Teilnahme ein. Sie bietet den Rahmen und stellt den Raum zur Verfügung. Aber der Anstoß muss von den Besuchern ausgehen. Sie müssen, ohne dass sie einen weiteren gedanklichen Bezugspunkt außerhalb des Ausstellungstitels haben, sich äußern, kommentieren oder Fragen stellen, wenn sie ins Gespräch mit Maria Eichhorn kommen wollen. Insofern sind die Positionen vertauscht: Die Besucher geben vor, worüber gesprochen wird. Die Künstlerin reagiert auf die Vorgaben.
11. Maria Eichhorn nimmt die Verbindungen auf, die zu ihr hergestellt werden. Sie hält sie wie Fäden in einer Hand. Nur sie kennt die Komplexität der Fragen und Aussagen, nur sie überschaut die Ausstellung korrespondenz@maria-eichhorn.de in Gänze, nur sie weiß, ob sich das Experiment gelohnt hat. Die Besucher, die das Projekt mit ermöglicht haben, müssen sich mit dem Teil der Korrespondenz bescheiden, den sie selbst geführt haben. Das schafft auch Verunsicherung, weil man sich nicht wie in Ausstellungen sonst mit anderen austauschen kann.
12. Die Korrespondenz als Ausstellung führt dazu, dass die Ausstellung in ihrer überkommenen Form in Frage gestellt wird. Was rückt an die Stelle? Eben das, was sich viele von uns schon immer gewünscht haben – eine Ausstellung, die auf unsere eigenen Vorstellungen und Fragen zugeschnitten ist. Aber wahrscheinlich hatten wir uns genau dieses Resultat völlig anders vorgestellt.
Aus: ein + alle, 2004
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