Keine Puppenstube der Klassik

Seit gestern ist Weimar offiziell Kulturstadt Europas. Hier einige Impressionen vom verregneten Eröffnungstag, der mit einem Feuerwerk enden sollte.

WEIMAR. Das Kulturstadtjahr beginnt beim Fahrkartenkauf. „Sie wollen nach Weimar zum Kulturprogramm?“ fragt die Bahn-Bedienstete. „Dann nehmen Sie doch das Weimar-Ticket. Da ist die Rückfahrt umsonst.“ Bahnfahrt also (ab 101 Kilometer) zum halben Preis; wer gar eine Bahn-Card besitzt, zahlt nur 25 Prozent des üblichen Hin- und Rückfahrtpreises. Allerdings nicht ganz, denn wer die Vergünstigung in Anspruch nimmt, verpflichtet sich, für 19,99 Mark eine Weimar-Card zu lösen. Doch diese Mehrkosten bringen neue Vorteile: Mit der Weimar-Card kann man drei Tage lang am Zielort den Nahverkehr kostenlos nutzen, hat man freien Eintritt zu etlichen Museen und bekommt Ermäßigungen.
Wie bei der vorigen documenta ist die Deutsche Bahn bei der Kulturstadt ein Hauptsponsor. Das Weimar-Ticket könnte viele entfernt wohnende Besucher zum Umsteigen verlocken. Aber nicht nur in dieser Beziehung hat sich die Bahn ins Zeug gelegt. Für rund 20 Millionen Mark hat sie den 1922 erbauten und zuletzt mächtig heruntergekommenen Bahnhof restauriert. Ein Schmuckstück ist daraus geworden. Die große Feier, die für gestern abend geplant war, fiel allerdings kleiner aus. Das Zugunglück im Allgäu zwei Tage zuvor hatte laute Töne unpassend erscheinen lassen.

Dabei hätte es aber auch einen anderen Grund gegeben, auf die Feier richtig zu verzichten: Der Bahnhof ist wie das Goethemuseum (Eröffnung 1. Mai) und die Weimarhalle (Eröffnung im Sommer) nicht termingerecht fertig geworden; er sollte eigentlich schon seit Jahresbeginn glänzen. So trübte nicht erst der gestrige Regen die Kulturstadtstimmung.
Überhaupt macht die Stadt den Eindruck, als käme der ganze Trubel zu früh. Noch immer wird an vielen Stellen (Straßen und Häusern) im Zentrum gebaut. Selbst der renommierte Russische Hof war gestern noch von Handwerkern besetzt. Andererseits liegt darin auch der Charme dieser Stadt im Übergang. Sie ist trotz umfangreicher Sanierungsprojekte keine Puppenstube der Klassik im Stil des Frankfurter Römerbergs geworden. Vielmehr ist und bleibt Weimar die Stadt der Brüche, wo unmittelbar neben dem Glanz der Goethezeit der Verfall während des DDR-Regimes zu spüren ist.
Aber die Carl-August-Allee, die vom Bahnhof ins Zentrum führt, macht jetzt ihrem Namen alle Ehre. Sie ist zum breiten Boulevard mit gepflasterten Gehsteigen geworden. Mitten auf ihrer Achse liegt als Querriegel das wiederaufgebaute Landesmuseum, das jetzt als Haus der Gegenwartskunst dient. Die Moderne als Hürde auf dem Weg zur Klassik? Das Bild paßt zur brüchigen Geschichte Weimars.

Herzog Carl August ist hoch zu ehren. Schließlich ist seiner Verbindung mit Goethe wesentlich die kulturelle Blüte Weimars um 1800 zu verdanken. Auch die Folgen hätte es ohne ihn kaum gegeben. Der Bundespräsident erinnerte in seiner Festrede im Deutschen Nationaltheater an das wilde Treiben des jungen Herzogs und seines Dichterfreundes und leitete daraus ein Loblied auf die sich frei und ungestüm entfaltende Kunst ab. Mit den späten Erben des Herzogs haben viele Menschen in Weimar heute nichts im Sinn. Da die fürstlichen Nachfahren Ansprüche auf etliche Schätze angemeldet haben, die heute den Kern der Weimarer Sammlungen bilden, werden jetzt Unterschriften gesammelt und wurde gestern vor dem Goethe-Schiller-Denkmal demonstriert, „Nationales Kulturgut gehört uns allen! Keine Rückgabe in Fürstenhand“ war auf einem Transparent zu lesen.
Um nationales Kulturgut war es in einem Vorspiel zum Kulturstadtjahr am Vormittag in einer anderen thüringischen Residenzstadt gegangen. Im Gothaer Schloß Friedenstein hatte Staatsminister Michael Naumann, das auf Kupfer nach 1600 gemalte Gemälde „Die Heilige Familie“ des Niederländers Joachim Wtewael den dortigen Kunstsammlungen übergeben. Das nur buchdeckelgroße Bild mit seiner äußerst lebhaften Darstellung war von einem sowjetischen Offizier nach dem Krieg geraubt worden und sollte nach vielen Umwegen in London versteigert werden. In einem beispielhaften Prozeß (Kosten 3,5 Millionen Mark) erstritten Gotha, das Land Thüringen und der Bund die Herausgabe des Bildes.

Zum Kulturstadtauftakt paßt dieser spektakuläre Fall deshalb so gut, weil mit dem Urteil formale Verjährungsfristen außer Kraft gesetzt wurden und der moralische Besitzanspruch triumphierte. Das könnte für die weiteren europäischen Kulturbeziehungen Folgen haben.
Weimar ließ zwar am Abend im Feuerschein die Puppen tanzen, das eigentliche Kulturstadtprogramm läuft allerdings erst richtig zum Frühjahr an. Dann wird (13. März) auch die Kopie von Goethes Gartenhaus fertig sein, die helfen soll, das Original vor der Zerstörung durch die Massen zu bewahren.
Die Stadt an der Ilm sucht nach einer neuen Identität. Sie will sich vom Klassiker-Mythos lösen, pflegt ihn aber auch. „Mythos Weimar“ heißt die vielschichtige und einfühlsame Fotoschau von Ute Klophaus, die heute im Schillermuseum eröffnet wird: Im Bekannten offenbart sich das Unbekannte; eine neue Schlichtheit wird spürbar. Auch nebenan in Schillers Wohnhaus, wo es süßlich nach Bohnerwachs riecht.
HNA, 20. 2. 1999

Kommentar: Goethes Vermächtnis

Gelegentlich kann man glauben, der Kulturbetrieb werde zum Selbstzweck: Hauptsache es ist was los und viele kommen hin. Dann stimmen am Ende auch die Statistiken.
Weimar ist nicht davor sicher, als Kulturstadt Europas in diesen Sog zu geraten. Das Kulturstadtprogramm als ein in die Länge gezogenes Kunstfest? Und Goethes 250. Geburtstag als Startblock für einen neuen Touristenwettlauf? Bei allem Selbstkritischem, das das Programm bereithält, kam am Eröffnungstag jedenfalls das zu kurz, was der Kulturstadt über ihr bekanntes Erbe hinaus einen Sinn geben könnte.
Allein der Bundespräsident ließ das Vermächtnis Goethes lebendig werden. Dabei war es gar nicht so sehr Herzogs Wunsch, über einen Bildungskanon für die Schule nachzudenken, der seine Rede bedeutsam machte. Wichtiger war, daß er aus den Weimarer Verhältnissen, die der junge Goethe und sein Herzog Carl-August schufen, ein Plädoyer für die Förderung künstlerischer Begabungen, die Freiheit der Kunst und das Miteinander von Intelligenz und Macht ableitete.
Weimar ist also nicht nur das stolze Nationalmuseum; es ist auch nicht bloß die Klagemauer für leidvolle Erfahrungen. Weimar kann zu dem Ort werden, an dem das Kulturverständnis selbst überprüft wird.
HNA, 20. 2. 1999

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