Die Klassikerstadt bereitet sich auf ihre Rolle als Kulturstadt im Jahre 1999 vor. Wie kann das gelingen? Welche Erblast trägt die Stadt?
In der Nacht hatte ein Sturm getobt und innerhalb weniger Minuten die seit Tagen auf der Stadt lastende Dunstglocke weggeblasen. Der nächste Morgen war überraschend ruhig und hell. Die Sonne strahlte gelegentlich zwischen den Wolken hervor. Ausflugswetter.
Die Frage, wo ich meine Weimar Klassiker-Besichtigungstour beginnen sollte, stellte sich also nicht. Bei dem Licht mußte ich mit Goethes Gartenhaus anfangen. Bereits um halb neun war ich im Park an der Ilm unterwegs. Der einzige Spaziergänger an diesem kühlen Morgen. Mein Weg schien aus der Zeit herauszuführen. Und als ich unmittelbar hinter der jungen Frau, die das Gartenhaus aufschloß, als einziger Besucher eintrat, war es, als würde ich unser Jahrhundert verlassen. Raum für Raum schritt ich ab, immer etwas zögernd, denn die Aufsicht machte vor mir die Runde, hier und da über Tische und Schränke mit dem Staubtuch wischend. Es konnte nicht lange dauern, bis der Hausherr durch die Tür eintreten würde.
Ich erlebte einen jener seltenen Momente der Nähe und Unmittelbarkeit, die alle suchen, wenn sie sich aufmachen, um im Dichterzimmer die Luft einzuatmen, die noch den Genius verrät. Doch was erleben wir normalerweise? Isolierte Reliquien und Versatzstücke, gut inszenierte Bühnenbilder, durch die eine Busladung nach der anderen zieht. Der Andrang ist gewöhnlich so groß, daß die vermeintlich historisch originalgetreuen Räume nach nassen Mänteln oder frischer Farbe riechen, weil die Spuren des Tourismus tief sind und retuschiert werden müssen. Je beliebter ein Ort ist, desto steriler ist die Atmosphäre, die ihn prägt.
Das ist beileibe kein Weimarer Sonderfall. Nur in Weimar spitzt sich das Problem besonders zu, weil der Besucherstrom groß und der Flaschenhals der Sehenswürdigkeiten eng ist. Die Hauptattraktionen sind ja kein museales Gut, das an einem anderen Platz der Erde den gleichen Wert hätte. Hier zählt nicht das einzelne Bild, sondern nur das Ensemble, das Ambiente. Erst in der Enge entfaltet sich der Genius.
Tausende, Hunderttausende sind jährlich auf der Pirsch nach der Seele Weimars, die zwischen Goethes Wohn- und Gartenhaus, zwischen Schloß und Schillerhaus, zwischen Herderkirche und Elephant vermutet wird. Im Kulturstadtjahr, so ist zu hoffen, ist zu fürchten, werden es noch mehr sein; und je mehr kommen, desto nachhaltiger werden sie die Seele verscheuchen. Die Touristen, die sich durch das Gartenhaus schieben, stehen sich selbst im Weg. Sie merken kaum, daß sie das Weimar, dem sie nachjagen, in ihrem eigenen Kopf mit sich herumtragen und die Plätze, die sie aufsuchen, nur als historische Belege dafür nehmen. Weimar ist in gewisser Weise eine Fiktion, eine Kopfgeburt, das Geschöpf einer Sehnsucht. Und wenn sich die Goethe-Jünger aufmachen und die Stadt in Beschlag nehmen, als hätten sie sie gegründet oder zumindest geerbt, dann verwechseln sie ihresgleichen mit den Weimaranern, die im besten Fall von dem Rummel wirtschaftlich profitieren.
Die Stadt der Klassiker als Ort der Identitätsfindung. Vergleichbares gibt es nicht oft in der Republik, aber in Thüringen gleich doppelt: Nächst der Wartburg, in der sich mittelalterliche Kultur, sprachgewaltiger Reformationsgeist, nationale Einheitssehnsucht und die Spiegelung dieser drei Elemente in der spätromantischen Restaurierungslust vereinen, ist Weimar ein Ort von nationalkultureller Überlast. Hier ist der Platz, an dem viele glauben, zu sich selbst zu finden.
Dabei mißlingt aber durchweg der Zeitensprung in die Vergangenheit, wenn die letzten 90 Jahre ausgeblendet werden sollen. Denn falls die als brüchig beklagte deutsche Geschichte an einem Punkt bruchlos ist, dann in Weimar. Dem Ort der Geistesheroen ging es unter jedem der Staatssysteme gut, die ihre Herkunft und Bedeutung aus der Geschichte ableiten wollten. Kaum war Honecker weg, war Genscher da; und beide störten sich nicht daran, daß sie sich auf denselben Fluren bewegten wie Goebbels vor ihnen. Das ist nicht verwunderlich, denn zum Charakter des Macht- und Systemwechsels gehört, daß die neuen Herren die Symbole ihrer überwundenen Vorgänger in Besitz nehmen und mit neuen Energien aufzuladen versuchen.
Faszinierend und erschreckend zugleich ist, wie sehr sich Gedanken- und Sprachmuster durch die Zeiten gleichbleiben. Ja, selbst die so modern klingende Zauberformel vom gemeinsamen Europa ist nicht ganz neu. Denn es ist ja keineswegs so, daß in der Zeit des Nationalsozialismus nur das Deutschtum überhöht worden wäre: 1941, als in den Augen vieler der halbe Kontinent den Deutschen zu Füßen lag, fand das traditionelle Dichtertreffen in Weimar im Zeichen Europas statt. Und wenn man dann in der Zeitschrift „Das Reich“ vom 2. November 1941 liest „Wenn es in Europa einen magischen Ort seiner Kultur gibt, dann ist das Weimar“, dann könnte man meinen, auch in einen Text zur Vorbereitung des Kulturstadtjahres geraten zu sein. Und fühlen wir uns nicht ertappt, wenn wir im selben Artikel lesen „Was diese Kultur ist: Weimar umschließt es wie ein kostbares Gehäuse und bringt es seinen Besuchern in den engen Gassen immer wieder nahe“?
Unsere Sehnsucht nach Ankunft im historischen Dichterhain wird dadurch weder falsch noch gegenstandslos, aber sie wird relativiert. Das europäische Kleid schützt Weimar weder vor Mißbrauch noch Fehldeutung. Hatte nicht schon Manfred Hausmann 1940 über das vorangegangene Dichtertreffen jenen Satz geprägt, der alle Unschuldsansprüche beiseite schiebt und der klar macht, daß Buchenwald kein Unglücksfall ist? Hausmann, der damals 32jährige Dichter, schrieb im „Reich“: „Den Höhepunkt dieses Zueinanderfindens im Wiedererkennen und Kennenlernen bildete der Empfang, den der Oberbürgermeister der Stadt Weimar im Haus Elephant gab. Nachdem er seine Gäste bewillkommnet und sie auf das Weimar Sauckels und Gieslers [NSDAP-Größen, d. Red.] hingewiesen hatte, das dem Weimar Goethes und Schillers ebenbürtig zur Seite stehe….“ Ein prophetisches Wort, mit dem Hausmann die Erblast umriß, die auf uns kommen sollte.
Die Gleichsetzung mit den Klassikern ging bei den braunen Machthabern so weit, daß daran gedacht war, die Särge Goethe und Schillers beim Untergang des Reiches in die Luft zu sprengen. Treffender hätte die Selbstüberschätzung einer politischen Klasse nicht beschrieben werden können. Buchenwald gehört nicht nur zu Weimar, weil es vor den Toren der Stadt liegt, sondern weil die bis in den Tod hineinreichende Identifikation mit den Klassikern jenes Herrenmenschentum dokumentiert, das den Massenmord als Konzept in sich trägt.
Es ist also gut, auf Distanz zu bleiben, denn die Umarmungen gingen weiter. Schon am 5. August 1945 feierte die Rote Armee Goethe und Schiller an ihren aus Jena zurückgekehrten Särgen „als die Kämpfer für den Triumph des Menschengeistes“. Und um die Ehrung zu vollenden, ließ das SED-Regime 1955 die Särge aus der Ecke der Fürstengruft herausholen, um die Dichter als die eigentlichen Fürsten zu proklamieren. Diese Überhöhung ist zwar korrigiert, doch der Drang derjenigen, die das klassische Erbe politisch nutzbar machen wollen, ist ungebrochen. Warum sonst wäre Weimar Kulturstadt geworden?
Natürlich kann Weimar als Museumsdorf und Wallfahrtsort überleben, natürlich kann es sich als ein Forschungszentrum der Philologen behaupten, und natürlich wird es ein Anziehungspunkt für das Theaterschaffen bleiben. Zur Kulturstadt wird Weimar über 1999 hinaus jedoch nur, wenn sich die Stadt als Modell für die deutsche Problematik begreift und daran arbeitet.
Das fängt mit der Rolle als Kulturstadt an. Weimar ist in diesem Jahrhundert die letzte in der Reihe und dabei die kleinste. Also muß sich die Stadt, wenn sie sich 1999 nicht vorführen lassen will, selbst befragen: Macht das Konzept Sinn, wenn man weiß, daß die Stadt sowieso ihr Kapital und Außenverständnis aus ihrer kulturellen Ausnahmestellung zieht? Oder: Wie geht man mit der Kapitalisierung von Erinnerungsräumen um, wenn die Besuchermengen die Attraktivität zum Verschwinden bringen, um derentwillen sie gekommen sind? (So gibt es den Plan, für 1999 eine Kopie des Gartenhauses für die Touristen herzustellen.)
Die zweite Frage knüpft daran an, daß die Systeme bruchlos Weimar in Beschlag genommen haben. Also: Was bedeuten die Folgen der Vereinigung für Weimar und dessen Kultur? Gelingt dort der Prozeß besser als andernorts, oder gilt Rolf Hochhuths pessimistisches Bild von den „Wessis in Weimar“? War Goethe ein herangekarrter Wessi, so wie heute in den Spitzen der Kultureinrichtungen Wessis sitzen? Daraus ergibt sich die dritte Frage: Ist Weimar Provinz und will die Stadt-Bevölkerung eigentlich mit der Festival-Kultur nichts zu tun haben?
Aufklärung und Modernität, Aufbruch und Scheitern – ein urdeutsches Problem. Wiederholt wurde die Moderne aus Weimar verscheucht: Henry van de Velde, der mit seiner von ihm aufgebauten Kunstgewerbeschule (Neubau 1904-06) der heimischen Handwerks- und Industrieproduktion formbewußte Gestalter zuliefern sollte, nahm mit seiner im Jugendstil begründeten Vorstellung jenes Konzept schon voraus, das sich ab 1919 im Bauhaus entfalten sollte. Aber er hatte mit den dortigen Verhältnissen ebenso seine Probleme wie Harry Graf Kessler, der die herzoglichen Kunstsammlungen zu einem Museum ausbauen wollte, in dem die internationale Avantgarde-Kunst ihren Platz haben sollte. Beide wurden vertrieben.
Wenn man bedenkt, daß der Erste Weltkrieg zwar für viele eine Zäsur bedeutete, daß er aber für die national(istisch) gesinnten Schichten im Denken keine Wende brachte, sondern eher zum trotzigen Dennoch verführte, dann kann man ahnen, zu welchem Fremdkörper das Bauhaus werden sollte. Dabei war das Bauhaus mit seinem ganzheitlichen Streben von dem Universalisten Goethe gar nicht so unterschieden. Nur fehlte zu Gropius‘ Zeiten jene fürstliche Autorität, die dem durch Weimar tobenden jungen Goethe den Rücken freigehalten hatte.
Wenn man sich an vordergründige Daten hält, dann ist das Bauhaus in Weimar politisch-gesellschaftlich gescheitert; 1925 suchte es in Dessau Zuflucht. Untersucht man die Geschichte genauer, dann hat mittelfristig der Pioniergeist doch obsiegt: Auch nach dem Weggang der Bauhaus-Lehrer blieben für weitere fünf Jahre deren Ideen in Weimar wirksam. Das Bauhaus kann also doppelt Modell sein: Es steht für den Widerstreit der kreativen Kräfte – zwischen selbstbestimmten Gestaltungstrieb und funktionaler Erfüllung – und es steht für die Selbstbehauptung der Moderne gegenüber den fremdenfeindlichen Strömungen.
HNA 14. 9. 1997
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