Welche Vorstellungen hat Okwui Enwezor, der Leiter der documenta Dirk, von der Kunst und vom Kunstbetrieb? Der Versuch einer Annäherung auf der Grundlage eines Gespräches mit ihm.
KASSEL Offiziell beginnt der Vertrag der documenta mit dem Ausstellungsmacher Okwui Enwezor im Juli nächsten Jahres. Auf die Frage aber, wann er die documenta-Arbeit aufnehme, sagte er am Dienstag morgen mit gelassener Selbstverständlichkeit: „Sie hat gestern begonnen“. Die Sensation, die für uns die Berufung des Afro-Amerikaners an die Spitze der documenta-Leitung bedeutet, ist für ihn keine. Falls er es doch als Riesenüberraschung empfunden haben sollte, so versteht er, dieses Gefühl zu verbergen.
Okwui Enwezor spricht freundlich, verbindlich und entschieden. Mit großer Selbstsicherheit bewegt er sich auf dem internationalen Parkett. Ob er sich mehr als Afrikaner fühle, wo er vor 35 Jahren geboren wurde und 19 Jahre lebte, oder doch mehr als Amerikaner, der er seit vielen Jahren auch laut Paß ist? Er weiß es nicht genau. Die Frage ist für ihn auch nicht wichtig. Vielleicht auch deshalb nicht, weil er im Ausstellungsbereich das ist, was man in der Wirtschaft einen „global player“ nennt, einer, der weltweit operiert.
Die Globalisierung ist für ihn auch eines der zentralen Themen. Dabei sieht er das Zusammenrücken der Kontinente und Kulturen als einen Prozeß an, der zu vielfältigen Veränderungen führe und die Künstler vor neue Herausforderungen stelle. Der schnellere Austausch von Ideen und Informationen und die Tatsache, daß viele afrikanische Künstler heute in den westlichen Zentren, vornehmlich New York, leben, hat nach Enwezors Einschätzung dazu beigetragen, daß Debatten, wie sie in Europa und speziell zur documenta in den 70er und 80er Jahren noch geführt wurden, nicht mehr möglich seien. Damals wurde wiederholt von documenta-Machern behauptet, die Kunst aus Teilen von Asien, Afrika und Lateinamerika sei nicht dialogfähig mit der westlich zentrierten Kunst.
Wie geht nun der neue künstlerische Leiter vor, wie wird er sein Konzept entwickeln? Erst einmal muß er nachdenken und prüfen, welche der Projekte, die er bislang für die nächsten Jahre zugesagt hat, realisieren kann oder eventuell nur begrenzt betreuen kann. So arbeitet er derzeit in Chicago an einem Ausstellungsvorhaben, das für das Jahr 2000 für die Villa Stuck in München verabredet ist. Unter dem Titel „Das kurze Jahrhundert“ sollen afrikanische Unabhängigkeitsbewegungen seit 1945 gespiegelt werden. In dieser Ausstellung geht es um das Verhältnis zur Geschichte und Kultur und um die Frage der Identität. Enwezor will neben Dokumenten Film, Fotografie auch Kunstwerke einbeziehen und dabei denkt er nicht nur an Arbeiten afrikanischer Künstler.
Unabhängig von der Frage, wie er dieses Projekt weiterverfolgen wird – das Konzept spricht für die Strategien von Enwezor. Ganz ähnlich wie vor ihm Catherine David geht er von kulturellen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhängen aus, um das zu beurteilen, was in der Kunst passiert. So will er Gespräche mit Kollegen und Experten der verschiedensten Disziplinen führen, bevor er seine Vorstellungen formuliert. Okwui Enwezor sieht sich zwar als allein verantwortlichen künstlerischen Leiter, ist sich aber sicher, daß er ein Team bilden wird. Einer der ersten Kandidaten für ein Team ist Octavio Zaya, mit dem Enwezor schon mehrfach zusammengearbeitet hat.
Bei der Auswahl der Künstler gibt es für den documenta-Leiter weder „Helden“ noch Hierarchien. Er will sich nicht von prominenten Namen leiten lassen, sondern danach fragen, welche neuen Fragen Künstler in Bezug auf die Erscheinungen dieser Welt gefunden haben. Dabei spielt es für Enwezor keine Rolle, welches Medium (Malerei, Skulptur, Video, Fotografie) die Künstler nutzen.
So wie er die Kunst als ein offenes System betrachtet, so sieht er auch die documenta nicht als eine museale Veranstaltung. Sie soll von täglichen Ereignissen begleitet werden und auch in den städtischen Raum hineinwirken. So stand bereits gestern vor seinem Rückflug nach New York für ihn eine Erkundung der Stadt Kassel an, nachdem er zuvor das documenta-Archiv besucht hatte. Auch zur Biennale in Johannesburg hatte es zahlreiche Arbeiten gegeben, die im Dialog mit der Stadt entwickelt worden waren.
Und stört es ihn, wenn Sponsoren die Ausstellung mitfinanzieren? Das ist im Moment für ihn kein Thema. Er werde sich um die Inhalte kümmern, für die Finanzierung seien andere zuständig. Der Etatrahmen für die nächste documenta liegt noch nicht fest. Die vorige documenta hatte 21,5 Millionen Mark gekostet, aber 22,9 Millionen Mark eingenommen.
HNA 28. 10. 1998