Die Schrecken eines Jahrhunderts

Die Annäherung an die Documenta 11 als eine Gewissenserforschung. Für die Plattform in Neu Delhi wurden 32 Filme zu den Schrecken unserer Zeit ausgesucht, die auch in Kassel gezeigt werden.

KASSEL Catherine David stieß auf große Skepsis, als sie versuchte, die documenta als ein reines Kunst-Event zu verabschieden und den Blick auf gesellschaftliche und globale Fragestellungen zu lenken. Heute ist klar, dass sie mit ihrem Reinigungsprozess und der damit verbundenen Öffnung den Weg für die Arbeit von Okwui Enwezor ebnete. Catherine Davids Nachfolger in der documenta-Leitung setzt noch radikaler bei der Reflexion über politische und gesellschaftliche Fehlversuche und Missstände ein. Der Diskurs über die Demokratie und die politische Kriminalität ist für ihn unverzichtbarer Teil seiner Ausstellungsvorbereitung. An dem Konzept für die zweite Documenta 11-Plattform in Neu Delhi wird sichtbar, wie von der philosophisch-politischen Auseinandersetzung über die Dokumentation zu künstlerischen Erzählweisen übergeleitet werden soll. Dabei ist das zusammengestellte Film- und Videoangebot nicht als eine vorgezogene Präsentation von documenta-Beiträgen zu sehen. Vielmehr handelt es sich um ein Begleitprogramm, das einerseits die Debatten der Plattform illustriert und das zum andern zu den künstlerischen Beiträgen hinführt. Als Ausgangspunkt für die Plattform wählte Enwezor den Titel von Mahatma Gandhis Autobiografie: Die Geschichte meiner Versuche mit der Wahrheit….. In seiner Einführung verdeutlicht Enwezor, dass es in zahlreichen Ländern ernsthafte Bemühungen um Gerechtigkeit und Wahrheit gegeben hat angefangen beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg bis hin zu den Wahrheits- und Menschenrechtskommissionen unserer Tage. Allerdings sind die Bemühungen um die Wahrheitsfindung nur deshalb so vielfältig, weil weder das 20. noch das begonnene 21. Jahrhundert dem Beispiel Gandhis gefolgt wären. Gewaltlosigkeit bleibt die Ausnahme, die Verbrechen an Menschen sind die Regel angefangen beim Holocaust und nicht endend mit dem Morden in Ruanda und auf dem Balkan. Das 32 Produktionen umfassende Film- und Videoprogramm erweist sich als eine einzigartige Zusammenstellung der endlosen Folge von politischen, rassischen und religiösen Gewalttaten und der zaghaften Versuche, diese Schrecken aufzuarbeiten: Vietnam, der Kampf um Palästina, der indisch-pakistanische Konflikt, Massaker in Afrika und Guatemala, der Terror in Irland und die Herrschaft Francos in Spanien. Auch die dunklen deutschen Kapitel werden einbezogen. Gezeigt wird Claude Lanzmanns 566 Minuten lange Produktion Shoa zum Holocaust. Dann werden Eyal Sivans Eichmann-Film Der Spezialist sowie der Dokumentarfilm über den Nürnberger Prozess gezeigt. Und schließlich ist der Film Deutschland im Herbst zu sehen, in dem sich mehrere Regisseure mit der Terror-Hysterie von 1977 beschäftigen. Diese beklemmende und ebenso elektrisierende Zusammenschau soll auch zur Documenta 11 in Kassel zu sehen sein. Außerdem ist die Ausstellungsleitung darum bemüht, die wesentliche Teile der Debatten im Internet (www.documenta.de) und in Buchform zugänglich zu machen.
HNA 9. 5. 2001

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