Kunst zum Alltag zurückholen

Okwui Enwezor setzt sich mit der Welt auseinander, bevor er sich mit Blick auf die Documenta 11 auf eine Kunstdiskussion einlässt. Die 1. Plattform der D11 begann als politisch-theoretischer Diskurs.

WIEN Zu den unvergesslichen Beiträgen zur documenta 5, die Harald Szeemann 1972 organisierte, gehörte das Büro für direkte Demokratie im Fridericianum, in dem Joseph Beuys 100 Tage lang unermüdlich mit Besuchern über eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung diskutierte. Vieles klang damals unausgereift, befand sich noch im Fluss. Doch das, was an diesem Auftritt so aufregend (für zahlreiche Beobachter unverständlich) wirkte, war die Tatsache, dass ein Künstler die Kunstpraxis durch die Diskussion über die Gesellschaft und Kreativität ersetzte. Vor allem wurde gefragt: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Nun, in einer Hinsicht war die Sache klar. Denn nur die Kunst konnte damals den Raum für eine so unorthodoxe, nicht akademische Diskussion geben. Den entscheidenden Grund lieferte die Diskussion selbst: Wenn man Kreativität als eine Kraft zur Formung und Veränderung nicht mehr nur auf die Kunst bezog, musste man zwangsläufig die anderen gesellschaftlichen Felder als Arbeitsgebiete anpeilen. Fünf Jahre später, zur documenta 6, erweiterte Beuys unter der Honigpumpe sein Diskussionsforum. Er beteiligte Experten an den Gesprächen und erörterte über weite Strecken ähnliche Fragestellungen, wie sie jetzt bei der ersten Plattform der Documenta 11 in der Akademie der bildenden Künste in Wien zur Diskussion standen. Der entscheidende Unterschied zischen den Diskussionsforen von 1977 und 2001 ist, dass jetzt das Gespräch nicht von unten, sondern auf höchster akademischer Ebene geführt wird und dass die eurozentrische durch eine globale Weltsicht ersetzt wurde. Das ist überhaupt das Faszinierende an der Plattform, dass die Fragen nach dem Wert und Stand der Demokratie im Zeichen der Globalisierung nicht aus einer Leidens- und Opferperspektive aufgegriffen werden. Der Vorzug der von Enwezor angestoßenen Diskussion liegt vielmehr darin, dass die Globalisierung des Kapitals und der Informationstechniken beantwortet wird durch eine Globalisierung der erkenntnistheoretischen Potenzen. Nicht nur einmal stellten sich bei den Diskussionen im voll besetzten Saal der Wiener Akademie Erinnerungen an die 100 Tage – 100 Gäste“ ein, die Catherine David zur documenta X veranstaltet hatte. Man erlebte spannende und rhetorisch fesselnde Vorträge sowie lebhafte Gespräche, die sich in den Pausen fortsetzten. Dennoch ist das, was in Wien bis 20. April und später dann an anderen Orten der Welt stattfindet, kein vorgezogenes 100-Tage-Programm vor anderem Publikum. Die Diskussionen sind weitaus intensiver. Sie fügen sich zu wissenschaftlichen Symposien zusammen, wie sie nur internationale Kongresse leisten können. In ihnen werden die Grundlagen für ein Weltverständnis gelegt. Spiegel der Realität Darum geht es auch Okwui Enwezor, wenn er die Wiener Plattform zum Auftakt seiner Documenta 11 erklärt: Weil sich die Kunst nicht im luftleeren Raum entwickelt, sondern Produkt und Spiegel der Realität ist, will er sie durch die Diskussionen in den gesellschaftlichen Alltag zurückholen. So bieten sich die vier Plattformen, die der Ausstellung vorausgehen, als theoretisches Vorwort an. Die Ausstellung selbst ist (ähnlich wie bei der documenta X) eine andere Ebene. Wer also jetzt in Wien etwa nicht Immanuel Wallerstein hören konnte, als der den Zusammenbruch des Kapitalismus innerhalb der nächsten 50 Jahre voraussagte, hat damit nicht den Zugang zu den Werken der Documenta 11 verpasst. Wie damals Beuys hat sich Enwezor bewusst dafür entschieden, die politischen Diskussionen in einem Raum der Kunst zu führen. Während aber Beuys mit seinen Gesprächen die Kunst zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit erweitern wollte, zielt Enwezor darauf ab, der Kunst wieder ihre Verbindlichkeit und ihren Ort in der politischen Realität zu geben.
HNA 19. 3. 2001
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