In der Münchner Villa Stuck hat Okwui Enwezor, Chef der Documenta 11, gestern eine Ausstellung eröffnet. The Short Century führt zu Denkweisen und Strategien der Kasseler Mega-Schau hin.
MÜNCHEN Die Ausstellung The Short Century“, die ab heute in der Münchner Villa Stuck öffentlich gezeigt wird, ist kein Vorwort zur Documenta 11, die im Juni nächsten Jahres in Kassel beginnt. Sie führt aber zu den Denkweisen und Strategien, die der Leiter der Documenta 11, Okwui Enwezor, einsetzt: Kunst existiert für ihn nicht im luftleeren Raum, sondern ist als ein Teil der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung zu sehen. Das gilt insbesondere für den afrikanischen Kontinent, in dem erst die Unabhängigkeits- und Freiheitsbewegungen der Zeit ab 1945 die Voraussetzungen für Ansätze eines Dialogs mit der westlichen Moderne schufen. Die kulturhistorisch angelegte Ausstellung The Short Century“ hatte Enwezor lange vor seiner Berufung zum documenta-Leiter mit der Villa Stuck verabredet. Deren Leiterin Jo-Anne Birnie Danzker versteht die Schau als einen notwendigen Beitrag zur Korrektur unseres Afrika-Bildes. Aber sie sieht auch eine besondere Münchner Verpflichtung, da hier die Künstler des Blauen Reiters“ vor rund 100 Jahren die inspirative Kraft der Kunst Afrikas für sich entdeckten, und weil 25 Jahre später die Moderne samt ihren Bezügen zu der archaischen Kunst aus Deutschland vertrieben wurde. Die Ausstellung und noch mehr der Katalog (Prestel Verlag, 496 S., 68 Mark in der Ausstellung) verstehen sich als ein kulturhistorisches Panorama, das die Kunst ebenso dokumentiert wie die Architektur, die Literatur, den Film und die Politik insgesamt. Gleichwohl rücken in der Schau die künstlerischen Werke in das Zentrum. Man betrachtet sie aber nicht isoliert, da die relativ kleinen Räume und die eng führende Ausstellungsarchitektur mit ihren Wandmodulen und Vitrinen aus Acryl zu einer komplexen Verschränkung von Film- und Fotodokumentationen, Videoprojektionen und für sich stehenden künstlerischen Werken führen. Wenn Okwui Enwezor, der auch dieses Projekt mit mehreren Kuratoren auf die Beine stellte, mit Hilfe der Kunst politische und kulturelle Entwicklungsprozesse erläutern will, dann bedeutet das nicht (so viel lernt man für die Documenta 11 in München), dass er sich auf politische Kunst kapriziert. Natürlich gibt es auch politisch-illustrative Kunst wie die von Kaswende (Demokratische Republik Kongo) oder die von John Muafangejo (Zimbabwe) zu sehen. Aber entscheidender ist, dass in jeder kulturellen Sparte die Befreiung von den Kolonialmächten ihre eigene Gesetzmäßigkeit hatte. Das bedeutet: Die Ausstellung führt mit Hilfe der ausgewählten Werke vor, wie sich die Künstler von den ästhetischen Vorbildern Europas befreiten und wie sie sich in der Zerreißprobe zwischen zerbrechenden kulturellen Wurzeln und fremden Einflüssen um einen eigenen Weg bemühten. Dabei war der Dialog keineswegs einseitig. Fruchtbare Impulse kamen auch von Künstlern wie Georgina Beier und Susanne Wenger, die von Europa aus die Ausdruckskraft afrikanischer Kulturen suchten. Die Ausstellung behauptet also nicht den aktuellen Stand der Kunst in Afrika, sondern sie führt zu Selbstbefreiung der Kunst hin. Beim Rundgang wird bewusst, wie schwer es für uns ist, uns vom kolonialen Blick zu lösen. Was empfinden wir als wichtige afrikanische Kunst? Das vermeintlich Ursprüngliche und Folkloristische oder das, was in der Nähe der westlichen Moderne anzusiedeln ist? Georges Adéágbo (Benin) hat mit seiner Installation eine Schlüsselarbeit für das gesamte Unternehmen geschaffen. Collage In einem Raum hat er auf dem Boden und an den Wänden eine schier unübersehbare Collage aus Textblättern, Zeitungsausschnitten, Schallplatten-Covers, Fundstücken, Objekten und gemalten Bildern ausgebreitet. Dokumente der Befreiung sind da ebenso zu sehen wie koloniale Überheblichkeiten (Hans Schomburgks Buch Wild und Wilde im Herzen Afrikas“). Dazwischen platziert sind aber auch umgekehrt folkloristische Souvenirs aus Deutschland und Bayern. Mit der Ausstellung ist das renovierte und umgebaute Atelierhaus der Villa Stuck als Kunsthalle neu eröffnet worden. Der Jugendstilbau ist zum weißen Kubus geworden, in dem auf vier Etagen in größtmöglicher Verdichtung das Mit- und Nebeneinander von Kunst, Kultur und Politik illustiert wird. Die Schau wird nach Berlin, Chicago und New York weiter wandern. Schon jetzt ist absehbar, dass sie im 1. Stock des Berliner Gropius-Baus völlig anders zu erleben sein wird. Die großzügige Raumfolge wird erlauben, die Ausstellung zu entzerren und viele Bilder und Objekte, die jetzt aus Platzgründen Depot bleiben mussten, einzubeziehen. Außerdem werden manche Videos, die jetzt auf Monitoren gezeigt werden, in Großprojektion zu sehen sein. In Berlin also werden die wahren Dimensionen erst sichtbar. Trotzdem kann auch die Münchner Präsentation überzeugen, weil sich in ihr das Künstlerische nicht in einen ästhetischen Freiraum flüchten kann.
HNA 15. 2. 2001
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