Um die Welt und dann nach Kassel

Was Catherine David begonnen hat, setzt Okwui Enwezor noch zugespitzter fort: Die Kasseler documenta gewinnt ein neues Gesicht. Aus der statischen Ausstellung wird ein Prozess.

KASSEL/HAMBURG Das Qualitätssiegel gilt noch immer: Die Kasseler documenta wird als die wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst gerühmt. Auch Uwe Schneede, Direktor der Kunsthalle Hamburg, benutzte das Prädikat, als er im überfüllten Theatersaal der Kunsthalle Okwui Enwezor zu einem Vortrag über die Documenta 11 begrüßte. Aber vieles spricht dafür, dass die kommende documenta erstmals den Anspruch eines Weltereignisses richtig erfüllen wird. Zum ersten Mal wird sich die Ausstellung, die anfangs europäisch und dann atlantisch ausgerichtet war, den verschiedensten Kulturräumen öffnen. In den 70er- und 80er-Jahren gehörte es zum Ritual der documenta-Pressekonferenzen, dass gefragt wurde, warum denn nicht die Kunst der Dritten Welt vertreten sei. Die Antwort war gleich lautend und wurde auch noch 1992 von dem Belgier Jan Hoet gegeben: Die Kunst aus Teilen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens sei unter so anderen Bedingungen entstanden, dass sie nicht in den documenta-Rahmen passe. Die Französin Catherine David bemühte sich zwar um die Einbeziehung von Kulturräumen, die nicht westlich geprägt sind, verlegte diese Erweiterung aber vornehmlich in das Katalogbuch und die überaus ertragreiche Reihe 100 Tage 100 Gäste“. Diskussion als Basis Der aus Nigeria stammende Amerikaner Enwezor, der von sich selbst sagt, er lebe zwischen den Kulturen, war einer dieser 100 Gäste. Als er sein Amt als künstlerischer Leiter der documenta übernahm, wollte er nicht ausschließen, ein ähnliches Element wie die Vortragsreihe einzuplanen. Doch es ist absehbar, dass er noch radikaler die statische Ausstellung um prozesshafte Elemente erweitern möchte. Die Erörterung der kulturellen und gesellschaftlichen Fragen soll nicht zu einer begleitenden Ebene der Ausstellung werden, sondern zu deren Basis. Denn über Kunst, so lautet Enwezors Bekenntnis, das er in Hamburg bekräftigte, könne man vernünftigerweise nur reden, wenn man die kulturellen und geschichtlichen Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten bedenke. Das heißt: Für Okwui Enwezor ist es undenkbar, durch die Welt zu reisen und im Vertrauen auf sein Gespür und seinen Geschmack in den Ateliers Kunstwerke auszusuchen. Die Kunst dürfe man nicht aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang reißen. Vielmehr gelte es, diese Rahmenbedingungen zu diskutieren. Das hat aber zur Konsequenz, dass die Documenta 11 nicht nur von Kassel aus vorbereitet werden kann, sondern dass eine Expedition rund um die Welt reist, ehe sie im Frühsommer nächsten Jahres mit einer Ausstellung nach Kassel zurückkehrt. Vor diesem Hintergrund waren Jan Hoets Einladungen zu Dia-Marathon-Sitzungen in Gent und Weimar heitere Selbstspiegelungen. Sie dienten vor allem der Klärung der Frage, welche Kunst gut und wichtig sei. Versteht man Enwezors Strategie richtig, dann sind für ihn solche Fragen nachrangig. Er möchte vielmehr die kulturellen Eigenheiten und Probleme sowie die Folgen von Globalisierung und Massen-Auswanderung diskutieren, bevor er und seine Mitarbeiter danach fragen, welche Künstler für eine Einladung nach Kassel in Betracht kämen. Wenn folglich Enwezor und sein Team zu Symposien (unter dem Titel Plattform) auf verschiedene Kontinente einladen, dann sind diese Reisen nicht mit den internationalen PR-Touren früherer documenta-Teams zu verwechseln. Vielmehr sollen das Forschungsunternehmen werden, bei denen das Terrain erkundet werden soll, auf dem die heutige Kunst gedeiht. Insofern ist die Behauptung, die für deutsche und Kasseler Ohren erst einmal unglaublich klingt, zutreffend, mit der ersten Plattform zum Thema Demokratie als unvollendeter Prozess beginne Mitte März die Documenta 11 in Wien. Das heißt auch: Dass unter den unterschiedlichsten Fragestellungen an den verschiedensten Orten der Welt die Documenta 11 und ihre Möglichkeiten diskutiert werden. Internet-Beteiligung Denjenigen, die nicht mitreisen können, verspricht Enwezor, dass sie über das Internet (www.documenta.de) an dem Prozess teilhaben könnten. Die Texte, Bilder und Filme würden so allen zugänglich gemacht werden. Akzeptabel wird ein solches Verfahren nur dann, wenn tatsächlich das Internet zu einer parallelen Informations- und Diskussionsbühne wird. Die spannendste Frage allerdings ist die, ob und wie dieses Erkundung der kulturellen Räume und die daraus entstandenen Diskussionen in der Ausstellung selbst, die am 8. Juni 2002 eröffnet werden soll, ihren Niederschlag finden werden. Dass eine Menge gezeigt werden soll, ist daraus zu schließen, dass nicht nur das Fridericianum und die documenta-Halle als Ausstellungsorte im Gespräch sind, sondern auch schon an die Neue Galerie, den Südflügel im Kulturbahnhof und das Stadtmuseum gedacht wurde.
HNA 25. 1. 2001

Schreibe einen Kommentar