Bilder der verblassenden Erinnerung

Heute beginnen wir, Künstler der Documenta 11 vorzustellen: Der belgische Maler Luc Tuymans (Jahrgang 1958) war bereits in der documentaIX (1992) vertreten.

KASSEL Der künstlerische Leiter der Documenta 11, Okwui Enwezor, und sein Team suchen für ihre Ausstellung gezielt solche Künstler aus, die sich kritisch mit den Fragen der Welt auseinander setzen. Der belgische Maler Luc Tuymans kommt exakt diesen Anforderungen entgegen. Kein Bild, so scheint es, entsteht bei ihm zufällig, jedes hat mit der Realität oder der Geschichte zu tun. Selbst wenn er nur eine Sammlung von Kerzenleuchtern im harten Licht- und Schattenkontrast darstellt, geht es ihm um Spurensicherung und Identitätsfindung: Die Leuchter gehören seiner Mutter; die malerische Umsetzung bedeutet also Erinnerungsarbeit und Auseinandersetzung mit dem eigenen Herkommen. Nur selten erfährt man, ob ein Künstler zielstrebig an solche Kompositionen herangeht. Dank seines Vortrags in der Kasseler Kunsthochschule aber weiß man, dass Tuymans planmäßig und bewusst arbeitet und offenbar nichts zufällig entsteht: Ohne Pause erläuterte und kommentierte der Maler fast zwei Stunden lang rund 90 seiner Bilder, die er als Dias vorstellte. Intensiver hätte ein Kunsthistoriker dieses Werk nicht präsentieren können. Im Werk von Tuymans gibt es zwei große zeitgeschichtliche Blöcke. Der eine ist der Hitler-Zeit und dem Holocaust gewidmet, der andere, der im vorigen Jahr auf der Biennale in Venedig zu sehen war, beschäftigt sich mit der belgischen Kolonialherrschaft und dem Schicksal des Kongo. Beide Bilderserien fallen aus dem übrigen Werkkomplex nicht heraus. Tuymans arbeitet nicht im Sinne eines Historienmalers, der dramatische Szenarien komponiert. Seine Bilder wirken eher beiläufig, fast belanglos. Sie ähneln eher einer Sammlung von Indizien wie in der Kongo-Serie: hier das auf dem Boden ausgebreitete Leopardenfell, über das nur der belgische König gehen durfte, da das Missionshaus und dort das Porträt des ermordeten kongolesischen Ministerpräsidenten Lumumba. Die Bilder sind Teile eines Mosaiks, das immer unvollständig bleibt. Die Dramatik und die Verbrechen verbergen sich hinter den Gemälden. Dementsprechend müssen die Betrachter fragend und forschend an die Werke herangehen. Als Jan Hoet 1992 Bilder von Tuymans in der documentaIX zeigte, ging es ihm vornehmlich darum, einen wichtigen Beitrag zur neuen Malerei vorzustellen. Dieser Aspekt mag bei der Documenta11 in den Hintergrund treten, doch darf er nicht übersehen werden, weil Tuymans Art zu malen immer noch einzigartig ist. Er ist ein Nachkomme von Rembrandt und Edward Hopper und hat auch von den Erfindungen der freien Malerei gelernt. Luc Tuymans hat demonstriert, wie auch heute noch gegenständliche Malerei möglich ist. Zwar ist die traditionelle Bildwelt zerbrochen, doch rettet er Fragmente und holt sie auf die Leinwand. Mal ist es ein einzelner Kopf, mal ein kopfloser Körper, dann wieder beschwört er eine Stadtszenerie. Malen ist für Tuymans die Auseinandersetzung mit vorhandenen Bildern und die Rekonstruktion einer versunkenen Wirklichkeit. Indem Tuymans eine Malerei aus so stark gedämpften Farben bevorzugt, dass manche Bilder wie schwarzweiß oder gar wie einfarbig (monochrom) wirken, hat man den Eindruck, man sähe die Projektionen einer verblassenden Erinnerung. Der Rückzug der Farben ins Ungreifbare gibt den Bildern etwas Magisches.
HNA 7. 2. 2002
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