Spätes Leiden an der Kolonisation

Als dritten Künstler der Documenta 11 stellen wir den britischen Filme- und Videomacher Isaac Julien (Jahrgang 1960) vor. Er hatte 1983 ein Projekt schwarzer Filmer mitbegründet.

KASSEL Im vorigen Jahr zeigte Okwui Enwezor, der künstlerische Leiter der Documenta 11, in München und Berlin die Ausstellung The Short Century, die sich mit den Freiheitsbewegungen seit 1945 in Afrika beschäftigte. Die dort gezeigten Fotos, Filme, Gemälde und Objekte ließen die Doppelgesichtigkeit der afrikanischen Geschichte sichtbar werden: Das Ringen um die Selbstständigkeit war zwar erfolgreich, doch führten nicht alle Aktionen zu Freiheit und Gerechtigkeit. Zum anderen zeigte es sich, dass es noch Jahre und Jahrzehnte dauern würde, bis die Völker auch die geistigen und seelischen Folgen der Kolonialzeit verarbeitet hätten: Die Herausbildung einer eigenen Identität ist ein langwieriger Prozess. Auf diesem schwierigen Weg erhielten die Afrikaner Unterstützung von außen von Landsleuten, die in Europa und Amerika studiert hatten, und von Schwarzen, die in der zweiten oder dritten Generation in Paris, London oder New York lebten und sich nun als Intellektuelle und Künstler auf ihre Wurzeln besannen. Einer von ihnen ist der Londoner Isaac Julien, der sich so sehr mit dem Schicksal der Schwarzen gleichsetzt, dass er davon spricht, er lebe in der Diaspora also unter Fremden. Bereits als 23-Jähriger schloss er sich mit anderen Kunststudenten zusammen, um unter dem Namen Sankofa Film gezielt dem unabhängigen Kino der Schwarzen eine Stimme zu geben. Dabei widmete er sich wiederholt dem Leiden der doppelt Unterdrückten jenen, die schwarz und schwul waren. Als ein Schlüsselwerk von Julien gilt der Film Frantz Fanon: Black Skin, White Mask von 1996. In diesem Dokumentar-Spielfilm greift Julien die Lebensgeschichte des Intellektuellen Frantz Fanon (1925-1961) auf, der, aus Martinique stammend, als Psychiater in Algerien arbeitete und dort erst Anhänger und dann Wortführer der militanten Freiheitsbewegung wurde. Der Filmtitel Black Skin, White Mask (schwarze Haut, weiße Maske) bezieht sich auf das Hauptwerk Fanons, das die gegenseitige Abhängigkeit von Kolonialherren und Kolonisierten untersuchte. Der Film verwendet Dokumentarmaterial, benutzt Interviews mit Zeitzeugen und Angehörigen und setzt auch Spielfilmelemente ein. In den ersten zehn Jahren waren Juliens Werke fast nur bei Filmfestivals gezeigt worden. In jüngster Zeit öffnete sich die Galerien- und Museumsszene seinem Schaffen. Er reagierte darauf, indem er neue Formen der Aufarbeitung und Präsentation entwickelte. Als ein Meisterwerk mit den schönsten Bildern, die er seit langem gesehen habe, pries Okwui Enwezor im Jahre 2000 Juliens Arbeit Long Road to Mazatlan. Außerdem zeichne es sich durch cineastische Könnerschaft aus. Der in Texas gedrehte Film, der zahlreiche Anspielungen auf die internationale Filmkunst enthält, erzählt von zwei Männern, die in Cowboy-Kleidung in der Stadt unterwegs sind. Es ist das Grundthema, das in Juliens Werk immer wieder auftaucht: Menschen im Grenzbereich. Die DVD-Produktion wird in Breitwand projiziert, wobei mal das Bild die ganze Fläche einnimmt und dann wieder sich die Projektion in drei parallel laufende Filme auflöst.
HNA 14. 2. 2002
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