Videoarbeiten der türkischen Künstlerin Gülsün Karamustafa in der Kunsthalle Fridericianum
KASSEL. René Block und seinem Team in der Kasseler Kunsthalle Fridericianum fallen immer neue Ausstellungsideen ein. Im laufenden Projekt arbeiten sie an einer fünfteiligen Schau, die wie ein Baukasten erst allmählich zusammengesetzt und vervollständigt wird.
Den Auftakt machte am 19. März die Doppelausstellung von Gerhard Rühm und Endre Tót, die sehr stark aufs Gedankliche und Sprachliche setzt und mit den Mitteln der Kunst spielt. Inmitten des Rundgangs wurden einige Räume freigelassen, die sich nun weit gehend füllen. Denn jetzt sind Video-Installationen der Türkin Gülsün Karamustafa (Jahrgang 1946) und Poster sowie Filme des Libanesen Jalal Toufic (Jahrgang 1962) hinzugekommen. Sie schieben eine andere Ausdrucks- und Wirklichkeitsebene hinein und verändern damit das Ausstellungserlebnis fundamental.
Regelmäßige Besucher der Kasseler Kunsthalle konnten Gülsün Karamustafa und deren Arbeiten bereits 1998 kennen lernen, als die mittlerweile schon legendäre Ausstellung Echolot gezeigt wurde.
Ihr zentrales Thema in Echolot war das Nebeneinander und der Austausch der Kulturen. Sie demonstrierte, wie Feindbilder über Jahrhunderte gepflegt werden oder wie in autoritären Staaten bereits Kinder durch Uniformen an Formen der Gewalt gewöhnt werden. Karamustafa ist ihrem Thema treu geblieben. Sie fragt nach der Identität der Menschen, ihren geheimen Wünschen und unterdrückten Schicksalen. Dabei gelingt es ihr immer wieder, die Normalität zu erschüttern. Gleich in zwei Videos wendet sie sich den Schicksalen von Frauen zu, die irgendwie am falschen Ort leben und doch nicht woandershin können. Für uns, die wir im Moment die aussichtslos scheinende Diskussion über die Migration führen, ist es merkwürdig zu sehen, dass unter anderen Vorzeichen in der Türkei eine ähnliche Problematik besteht.
Gülsün Karamustafas Filme sind tief menschlich. Einige von ihnen wirken zuerst rein unterhaltsam, sodass sich ihre tiefe politische Dimension erst allmählich erschließt. Faszinierend an den sieben Videos ist, dass jede Arbeit auf eine andere Weise präsentiert wird. Besonders schön beispielsweise ist, wie in der Arbeit The Settler die zwei Projektionen in einer Wandecke aufeinander stoßen und so die beiden nach ihrer Identität suchenden Frauen mühelos die Spielflächen tauschen können. Zu der Arbeit Memory of a Square, die der Ausstellung den Titel gibt, gehören ebenfalls zwei Projektionen. In der einen sieht man Alltagsszenen aus türkischen Familien; in der anderen sind Fotos von einem Istanbuler Platz zu sehen, die Erinnerungen an politische und gesellschaftliche Ereignisse festhalten. So mischen sich öffentliche und private Geschichte, und doch könnten die Bilder von Aufmärschen und Demonstrationen auch aus anderen Ländern stammen.
Dank der Videos lernt man viel über die untergründigen Erlebnisschichten in einer Gesellschaft. Man erfährt aber auch, wie über die Distanz des Films Nähe hergestellt werden kann. Eine gelungene Erweiterung der Ausstellung.
HNA 12. 4. 2006