Versuch, die Schuld nachzuerleben

Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera taucht in die Geschichte und Mythen ein

Die kubanischen Künstler der mittleren und jüngeren Generation leben in einer zwiespältigen Situation. Wohl sind sie in einem sozialistisch-autoritären Land groß geworden, doch haben sie Kontakt zu der westlichen Kunst gewonnen, die ihnen die Mittel an die Hand gibt, ihr Land und ihre Situation kritisch zu spiegeln. Eine profilierte Vertreterin ist die 1968 in Havanna geborene Performance-Künstlerin Tania Bruguera. Sie war mit ihren Arbeiten zu den Biennalen in Venedig (2001), Havanna (2000) und Sao Paulo (1996) eingeladen worden. Okwui Enwezor hatte ihr Werk außerdem 1997 in der 2. Johannesburg-Biennale gezeigt; nun wird sie zur Documenta 11 nach Kassel kommen. Sie hat als Performance-Künstlerin begonnen, mittlerweile auch Objekte und Installationen sowie Video-Arbeiten gemacht; wobei das Video das verlässlichste Mittel ist, Performance-Beiträge, die während einer länger laufenden Ausstellung nicht ständig wiederholt werden können, zu dokumentieren. Viele frühe Arbeiten von Tania Bruguera drehen sich um die Frage der Emigration ein für das Kuba der vergangenen Jahrzehnte zentrales Problem. Mit ihrer 1997 entwickelten Arbeit El peso de la culpa (Die Last der Schuld) begibt sie sich in die Tiefen der Geschichte und spiegelt zugleich die aktuelle Situation. Die Grundfrage, die den Anstoß zu ihrer Performance gab, lautet: Wie wehrt man sich gegen gewaltsame Eindringlinge, wenn man keine Waffen hat und zur Gewaltausübung auch nicht erzogen ist? Als Antwort darauf sahen die Ureinwohner Kubas, die von den Spaniern überwältigt wurden, nur den Ausweg, sich in den Selbstmord zu flüchten. Sie aßen so lange Staub, bis sie starben. So kam es zu dem Paradox, dass der Staub der eigenen Erde sie in den Tod beförderte. Die Erfahrung dieser Geschichte berührte Tania Bruguera doppelt als Person und Angehörige dieses Landes, in dem so etwas möglich war. In ihrer Performance spielte sie die Geschichte nach: Behängt mit einem geschlachteten Lamm, formte sie Bällchen aus Erde und Salzwasser und nahm sie zu sich. Sie wurde zum Lamm, das sich selbst opferte, um sich dem Feind zu entziehen und so zu überleben. Wie viele andere Performance-Künstlerinnen setzt die Kubanerin ihren Körper ein, um die Verletzlichkeit und das Unentrinnbare sichtbar zu machen. Die Kunst gibt so die Möglichkeit, die Grenzerfahrung von Tod und Leben begreifbar werden zu lassen. Kunst ist existenziell. Diese Botschaft spricht auch aus den Objekten und Installationen von Tania Bruguera. So fertigte sie als Kulisse für ihre Performance (und auch als isoliertes Ausstellungsobjekt) eine überdimensionale kubanische Fahne an, die aus Stoff und dem Haar von Kubanern bestand. Eindringlicher hätte sich nicht symbolisieren können, wie unauflöslich das Schicksal der einzelnen Menschen in die Geschichte ihres Landes verflochten ist. Auch eine Objekt-Installation, die sie 1995 dem sagenhaften Dädalus und seinem Sohn Ikarus gewidmet hat, weist in diese Richtung. Sie schuf surreal wirkende Flugmaschinen, die von den antiken Sagengestalten hätten stammen können, die aber auch von den Kubanern dazu hätten benutzt werden können, sich auf den Weg zu machen und ihrer ausweglosen Situation zu entkommen. Aber jenseits dieser Botschaft handelt es sich um Objekte voller Poesie und zerbrechlicher Schönheit, die ein Gegenbild zu einer Wirklichkeit entwerfen, die nur auf Funktionalität ausgerichtet ist.
HNA 17. 2. 2002
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