Suche nach Geschichten, die unsere Welt erklären

Die Kunst wendet sich wieder stärker gesellschaftspolitischen Fragen zu. Ein Rückblick mit einem Ausblick auf das Jahr der Documenta 11 In den 70er- und 80er-Jahren war es ein festes Ritual, dass in einer documenta-Pressekonferenz irgendwann die Frage gestellt wurde, wo denn die Kunst der so genannten Dritten Welt bleibe. Genauso regelmäßig, wie gefragt wurde, lautete die Antwort, diese Kunst stehe nicht zur Debatte, da sie mit der westlichen (europäisch-amerikanischen) Kunst nicht vergleichbar sei. Selbst Jan Hoet, der sich im Vorfeld der documenta IX (1992) in die Länder an der Peripherie begeben hatte, folgte prinzipiell dieser Meinung. Und Catherine David, die 1997 die weltweite Öffnung der documenta im Sinn hatte, vertrat die Ansicht, aus Ländern wie China könne man nicht bildende Kunst, sondern bestenfalls Gedichte in die Diskussion einbeziehen. Nun aber sehen wir einer documenta entgegen, die von einem Kurator verantwortet wird, dessen biografische Wurzeln in einem Land liegen, dessen Kunst jahre- und jahrzehntelang nicht einmal diskussionswürdig schien: Okwui Enwezor ist Nigerianer. Zwar hat er längst einen amerikanischen Pass und gehört er zu dem Kreis der Intellektuellen, die auf verschiedenen Kontinenten arbeiten und damit Pioniere der Globalisierung sind. Bisweilen hat man das Gefühl, als habe die Öffentlichkeit die Dimension des vollzogenen Wechsels noch nicht richtig erfasst: Während die bisherigen zehn documenta-Ausstellungen die Kunst ausschließlich aus europäischer Sicht gewichteten und immer in der Versuchung waren, das Außereuropäische als das Exotische einzustufen (und zu verharmlosen), ist Enwezor in der Lage, mit einem authentischen Blick die Kunst der Peripherie auszuwählen. Dabei kann er davon profitieren, dass seine afrikanische Sichtweise durch die Jahre seines Wirkens in den USA gefiltert wurde. Mag sein, dass die Berufung eines Afro-Amerikaners an die Spitze der Documenta 11 dem Geist des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts entsprach. Auf jeden Fall wurde die vor drei Jahren ausgesprochene Berufung Enwezors als Signal verstanden. Schon ein halbes Jahr später fiel bei Harald Szeemanns Biennale in Venedig auf, wie stark er plötzlich auf die sich neu formierende Kunstszene in der Volksrepublik China setzte. Und im Sommer dieses Jahres gar erklärte Szeemann die Zentralausstellung seiner Biennale zum Plateau der Menschheit. Auf einmal war die ganz ästhetisch ausgerichtete Kunstdiskussion vergessen. Dafür drängten sich Arbeiten in den Vordergrund, die die Fragen nach der Welt und dem Menschsein, nach der Identität und der Körperlichkeit stellten. Die Kunst hat sich, wie es scheint, wieder stärker den Problem der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit zugewandt. Aber dieser Eindruck täuscht: Es gab immer zahlreiche Künstler, die mit ihren Arbeiten auf historische und aktuelle gesellschaftliche Widersprüche reagierten. Gewandelt haben sich in Wahrheit die Kuratoren und deren Sichtweisen. Die stärkere Gewichtung des Politischen hat allerdings ursächlich mit der Globalisierung des Kunstdialogs, mit der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Kunst in Lateinamerika, Afrika, Arabien und Asien zu tun. In vielen Ländern dieser Regionen ist die Kunst ein Mittel der Selbstfindung und des Überlebens. Denn zahlreiche Völker und Länder sind erst dabei, die Folgen des Kolonialismus zu verarbeiten und zu einer eigenen Geschichte zurückzufinden. Da zudem in vielen Staaten Systeme an der Macht sind, die den direkten politischen Diskurs nicht zulassen, müssen andere, erzählerische Ebenen gefunden werden. Der Film, die Literatur, das Video und die bildende Kunst liefern dabei die ästhetischen Mittel zur Darstellung. Okwui Enwezor hat zwar wiederholt darauf hingewiesen, dass seine Ausstellung The Short Century, die in diesem Jahr in München und Berlin zu sehen war, kein Modell für seine Documenta 11 sei, sondern eine Illustration der Freiheitsbewegungen in Afrika. Trotzdem lehrt die Ausstellung, wie unmittelbar Kunst wirken kann, wenn sie als Mittel zur Bewältigung der Realität eingesetzt wird. Außerdem wurde offenbar, dass es in der Fotografie und im Film, im Video und in der Malerei eine Vielzahl erzählerischer Mittel zur Annäherung an die brennenden Fragen gibt. Die Kunst hält die Modelle dafür bereit. Wie stets vor dem Beginn eines documenta-Jahres sind wir wissbegierig und ratlos zugleich. Jenseits der Diskussions-Plattformen hat das Ausstellungsteam von den zu erwartenden Inhalten der Documenta 11 kaum etwas preisgegeben. Immerhin hat die Ausstellungsleitung damit begonnen, einzelne Künstler, deren Denken und deren Bildsprache, in der Edition point d ironie von agnes b. vorzustellen. In dieser Reihe der achtseitigen Künstlerhefte, die aussehen wie Werbeprospekte, präsentiert sich jetzt nach Thomas Hirschhorn der in Frankreich lebende Ungar Yona Friedman (Jahrgang 1923), der zu den großen Visionären unter den Architekten gehört. Friedman, der in Enwezors Ausstellung The Short Century vertreten ist, hat Entwürfe für mobile und ökologische Stadtstrukturen entwickelt, außerdem hat er zur Verdichtung der Bodennutzung Vorschläge für in den Raum gebaute, auf Stelzen ruhende Architekturgebilde gemacht. Wie Hirschhorn trägt Friedman in dem point d ironie seine Gedanken spielerisch vor als Collagen aus comic-haften Zeichnungen und Buntpapierklebebildern: Komplexe Vorstellungen werden in heiter wirkende Modelle übertragen. Auch ist davon auszugehen, dass Video-Künstler wie der jüngste Bode-Preisträger Stan Douglas und Maler wie der Belgier Luc Tuymans, der in der Biennale von Venedig eine Bilderserie zum Unabhängigkeitsprozess des Kongo zeigte, in der Documenta 11 zu sehen sein werden. Die Arbeiten dieser vier Künstler stehen dafür, dass wir im kommenden Sommer in Kassel zahlreiche Arbeiten sehen und erleben werden, die mit vielfältigen, manchmal überraschend einfachen Mitteln von unserer Welt modellhaft erzählen werden.
HNA 30. 12. 2001
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