100 Regisseure machen einen Film

Bis zum Ende der Kasseler documenta X entsteht ein Film über die Kunstschau, für den es kein festgeschriebenes Konzept gibt. Jeden Tag kommt eine neue Idee hinzu.

KASSEL Die Einladung richtet sich an alle documenta-Besucher: Wer will, kann einen Ein-Minuten-Film über die Kunstschau drehen. Jeden Tag eine Minute und jeden Tag ein anderer Regisseur. Viele wollen, aber nicht alle haben die zündende Idee. Andere haben ein Konzept im Kopf, aber nicht die Zeit, um zwei, drei Stunden lang (oder mehr) an ihrem Beitrag zu arbeiten. Doch das Projekt schreitet voran: 100 Tage – 100 Regisseure – 100 Minuten. Mehr als 60 Minuten des Films stehen schon. Rund ein Dutzend Termine ist noch frei.
Die von den engagierten Filmemachern Stefan Bornemann und Jörg Ruckel entwickelte Idee ist ebenso faszinierend wie simpel. Sie nahmen sich vor, zur documenta X selbst ganz in den Hintergrund zu treten und die Auseinandersetzung mit der Ausstellung den interessierten Besuchern zu überlassen: Ein Film soll entstehen, der sich aus lauter subjektiven Einzelbeobachtungen zusammensetzt – jeder, der interessiert ist, soll filmisch eine Minute gestalten können. Der eine geht als Flaneur über den Parcours, der zweite fragt, ob die Schweine am Ende zu Wurst verarbeitet werden, und der dritte entwickelt ein Vexierspiel mit Kunstwerken.
Das Produktionsteam, das aus Stefan Bornemann, Jörg Ruckel, Jörg Landau und Roland Sippel besteht und das insgesamt über einen Stab von 25 ehrenamtlichen Mitarbeitern verfügt, versteht sich als ein reiner Dienstleiterbetrieb. Sie stellen Kamera und Kameramann, eventuell noch einen Assistenten, sie erörtern mit dem Freizeit-Regisseur die Idee, beraten ihn bei der Umsetzung, pfuschen ihm ins Konzept aber nicht hinein.
Auf diese Weise entsteht ein Film, der sich wie von selbst dreht. Doch das Konzept funktioniert: Die Leute, die sich melden, verfügen über viel Kreativität. Zahlreiche Künstler sind unter ihnen und viele kommen aus dem Ausland. Oftmals haben sie eher zu viele als zu wenig Einfälle. Entscheidend aber ist, so glaubt das Team, daß die documenta als roter Faden ausreicht.
Ist der Film gedreht – mal werden fünf, mal dreißig Minuten Rohmaterial hergestellt, wird in dem Container auf dem Bahnhofsvorplatz im Beisein des Tagesregisseur der Videofilm geschnitten. Die Digitalisierung per Computer erleichtert dabei das Schneiden und Überblenden der Szenen. Ist dann die Minute fertig und abgenommen, wird sie nicht weiter bearbeitet. Höchstens werden später einzelne Sequenzen mit Musik unterlegt. Unabhängig davon, so sind die Initiatoren überzeugt, stimmt die Szenenabfolge auch so.
Auf diese Weise entsteht ein einzigartiger Film über die documenta. Die 100 Minuten werden nicht nur 100 Sichtweisen spiegeln, sondern auch 100 verschiedene Rhythmen. Der vom Hessischen Rundfunk und der Filmförderung unterstützte Film soll am Schlußtag der documenta, am 28. September, 17 Uhr, im Bali Premiere haben.

HNA 23. 8. 1997

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