Kunst, Medientheorie und Physik: Ein ebenso atemberaubender wie unterhaltsamer Abend, an dem Peter Weibel und Otto E. Rössler Ansätze für ein neues Weltmodell vorstellten.
KASSEL Gibt die Computertechnologie der Wissenschaft ein Mittel an die Hand, von außen auf die Welt zu blicken, die Entwicklungsgesetze des Universums zu studieren und möglicherweise zu verändern? Der Physiker Otto E. Rössler hält das für möglich und will nicht ausschließen, daß bereits daran gearbeitet worden ist. Beispielsweise würde er dem amerikanischen Physiker H. Everett dergleichen zutrauen: Der hatte 1953 als Autodidakt eine aufsehenerregende Arbeit über die Veränderbarkeit der Welt vorgelegt und war anschließend, ohne eine weitere wissenschaftliche Spur zu hinterlassen, bis zu seinem Tod (1987) hinter den Mauern des US-Verteidigungsministeriums (Pentagon) verschwunden.
„Ich soll Ihnen keine Märchen erzählen, ich soll als Physiker auftreten,“ ermahnte Rössler sich selbst. Aber es waren gerade diese märchenhaften Einsprengsel wie die Geschichte von dem verschwundenen Everett, die seinen Vortrag so hinreißend machten und die halfen, sich in die zuweilen schwindelerregenden Denkmodelle hineinziehen zu lassen. Rössler entsprach dabei genau dem Klischee des sanften, zerstreuten Wissenschaftlers, der zu Heiterkeitstränen Anlaß gab, wenn er mit der Technik kämpfte, während er mit nur wenigen Stichworten ansetzte, um Naturgesetze auszuhebeln.
Die Ausgangsthese des Abends war, daß erst in diesem Jahrhundert (in der Auseinandersetzung mit Relativitäts- und Quantentheorie) sich die Erkenntnis durchgesetzt habe, daß wir „interne Beobachter der Welt“ sind. Bis dahin habe die klassische Physik geglaubt, wir betrachteten die Welt von außen. In Wahrheit seien die Menschen aber immer Gefangene von Zeit und Raum gewesen. Erst die Computersimulation ermöglicht demnach, willkürlich die Voraussetzungen zu verändern und die Schnittstelle zu verschieben.
Bei aller Skepsis erwies sich Rössler dabei als unverbesserlicher Optimist: Er glaubt nicht nur an die Kraft des Rationalen und also an die Möglichkeit, die Welt zu verstehen. Seiner Ansicht nach gibt es auch durchaus Chancen zur Veränderung.
Und was hat dies alles mit der Kunst und den Medien zu tun? Rössler und Weibel stützten sich und ihre Theorien gegenseitig. Das verbindende Schlüsselbild projizierte Weibel gegen Schluß an die Leinwand. Zu sehen war eine mittelalterliche Weltdarstellung, in der die Erde eine Scheibe ist, über die der Himmel wie eine Käseglocke gestülpt ist. Links unten steckt ein Mensch seinen Kopf durch die Horizonthülle: Auf naive Weise versucht er das, worum sich die Wissenschaft heute bemüht – von außen auf die Welt zu blicken.
Weibel, der auf faszinierende Weise seine künstlerische mit seiner medientheoretischen Arbeit verbindet, verabschiedete die klassische Malerei fast endgültig als eine überholte Technik. Seiner Meinung nach hat die Bildsprache durch Fotografie, Film, Video und Computer völlig neue Dimensionen gewonnen: Jetzt ist es möglich, Räume sichtbar zu gestalten, die es nur in der Vorstellung gibt, und Personen darin als Handelnde zu erleben, die gleichzeitig Beobachter der Szenerie sind. Die neuen Medien helfen also, jene Außensicht auf sich selbst zu erreichen, um die sich die neue Physik bemüht.
Die documenta X ist von vielen gescholten worden, weil sie die Malerei vernachlässigt und die Medien wie Fotografie, Video und Internet hofiert habe. Gemessen an dem, was Weibel vortrug, ist die documenta aber eine brave und geradezu klassische Ausstellung.
HNA 21. 8. 1997
Peter Weibel
Der österreichische Pavillon in der Biennale von Venedig bietet in diesem Jahr Ungewöhnliches. Es sind weder Bilder noch Objekte zu sehen, auch keine Installation: Die beiden Säle beiderseits des Eingangs waren zur Eröffnung vollgestapelt mit dicken Büchern, die Gerhard Rühm und die Wiener Gruppe ehren. An den Wänden konnten die Besucher die Aufforderung lesen, ein Buch mitzunehmen. Viele Besucher nahmen die Aufforderung an, andere ließen sich vom Gewicht der Bände abschrecken.
Nahezu kein anderer als Peter Weibel konnte auf eine solche ebenso abwegige wie faszinierende Idee kommen: Das sichtbare Werk ist das Buch, so lautet die Botschaft; wer es würdigen will, nimmt es mit. Diejenigen, die zu spät kommen, müssen sehen, wo sie mit ihrem Informationsbedürfnis bleiben.
Der 1945 in Odessa geborene Peter Weibel ist auf keinen einfachen Nenner zu bringen. Er ist der erste Wissenschaftler, der nachhaltig über die Möglichkeiten und Konsequenzen der neuen Medien nachdachte. Er ist aber auch Künstler, der immer wieder intuitiv neue Wege erschließt. Und er ist schließlich ein Kunstvermittler, der außergewöhnliche Ausstellungen ermöglicht.
Gewiß ist es kein Zufall, daß Österreich in den letzten Jahren die ungewöhnlichsten Künstlerpersönlichkeiten hervorgebracht hat: Arnulf Rainer, Franz West, Hans Hollein und Peter Weibel. Dabei ist Weibel jemand, der seit rund 20 Jahren auch im Hochschulbereich als Lehrer wirkt – auch zweimal an der Gesamthochschule in Kassel. Seit 1993 ist er künstlerischer Leiter der Neuen Galerie am Landesmuseum in Graz und Kommissar für den österreichischen Biennale-Pavillon.
Heute abend wird Weibel in der documenta-Halle gemeinsam mit Otto E. Rössler auftreten. Rössler, 1940 in Berlin geboren, ist ursprünglich ein Mediziner, der sich systematisch den Bereich der Physik erschloß. Weibel wie Rössler verbindet, daß sie über das Chaos nachgedacht haben. Gemeinsam wollen sie heute über neue Aspekte der Physik nachdenken.
HNA 19. 8. 1997