Das Museum als Modell

„Museum der 100 Tage“ wurde die documenta wiederholt genannt. Die Ausstellung steht aber stets in einem Spannungsverhältnis zum Museum und stellt es zur Diskussion.

KASSEL Das Konzept von Catherine David, die documenta X als eine Retroperspektive anzulegen, führte zwangsläufig dazu, daß die Ausstellung partienweise musealen Charakter gewann. Vor allem die großen Werkkomplexe aus den 60er Jahren (und früher) können gar nicht anders als historisch präsentiert werden. Die documenta X nimmt dies aber nicht nur in Kauf, sondern stellt zugleich das Museum und seine Rolle zur Diskussion.
Eröffnet wird diese Auseinandersetzung mit dem Adlermuseum von Marcel Broodthaers (1924 – 1976). Der Belgier hatte dieses Museum 1972 für die documenta 5 geschaffen. Es ist einerseits ein realer Museumsraum mit allen erdenklichen Adler-Darstellungen (Vogel, Wappen, Staatssymbol) und es ist ebenso ein Ort, an dem die Regeln des Museums auf den Kopf gestellt werden. So findet man im Inneren des Raumes unter anderem auch leere Bilderrahmen, die die mitteilungslose Kunst (weiße, schwarze Bilder) ebenso ironisieren, wie sie das unfertige Museum repräsentieren.
Wie in jedem normalen Museum ist jedem Ausstellungsobjekt ein Schildchen zugeordnet. Aber diese Schilder bezeichnen nichts, sondern bieten Desinformation: „Werbung“ liest man da oder „Publicity“ oder „Publicite?“. Verständlich wird dieses Verwirrspiel dann, wenn man die eine Tafel mit den gleichlautenden Schildchen „Dies ist kein Kunstwerk“ beachtet. Broodthaers knüpfte an Marcel Duchamp und Rene? Magritte an, die bewußt gemacht hatten, daß es eine Frage der willkürlichen Setzung sei, ob man etwas als Kunst ansehe, und daß der Gegenstand und sein Bild nicht einfach gleichzusetzen seien: Er hatte in einer Düsseldorfer Ausstellung zum Adler an allen Objekten das Schild „Dies ist kein Kunstwerk“ angebracht – ob es sich nun um Kunst handelte oder nicht. Damit hatte er den Umgang mit der Kunst insgesamt in Frage gestellt.
Doch in der Ausstellung gibt es auch die Gegenentwürfe zu betrachten: Werkkomplexe, die so präsentiert werden, daß dabei die Normen des Museums zur Entfaltung kommen. Am eindringlichsten gilt das für den Raum von He?lio Oiticica (1937 – 1980) im Kulturbahnhof, in dem man von einer Fotowand und einem Modell zu den Podesten mit den Farbobjekten und Ständern mit den Kostümen geführt wird. Innerhalb eines überschaubaren Areals wird die avantgardistische Leistung dokumentiert, die Oiticica vollbracht hat.
Eine Etage höher hat Michelangelo Pistoletto seine Minus-Objekte in musealer Form aufgestellt. Es ist keine Installation, sondern ein aus ganz unterschiedlichen Arbeiten bestehendes Energiezentrum, aus dem sich das Werk des Italieners bis heute entwickelt hat. Ein Mittelding zwischen Archiv und Museum ist der „Atlas“ von Gerhard Richter, der im Fridericianum aufgeblättert ist. Hier wird über Fotografien und Zeichnungen ein monumentaler Künstler-Kosmos gespiegelt.
Marcel Broodthaers spielte mit der Wechselbeziehung von Kultur- und Kunstmuseum. Richard Hamilton und Ecke Bonk hingegen realisierten die Doppelnatur des Museums. In ihrem gemeinsamen Raum ist die Kulturgeschichte zu betrachten – vom kostbaren historischen Druckwerk über das Tafelbild bis hin zur virtuellen Projektion.

HNA 4. 9. 1997

Schreibe einen Kommentar