Die Kunst im Wartesaal

Eine der zentralen Arbeiten der documenta X ist zugleich eine der verschlossensten: Reinhard Muchas Installation „Wartesaal“, die im Ottoneum zu sehen ist.

KASSEL Der Bahnhof ist ein Symbol unserer Zeit, ein Symbol für das Unterwegssein, für freiwilliges und unfreiwilliges Nomadentum, für Abschied und Heimkehr und schließlich für Vergänglichkeit. Der Bahnhof ist in diesem Jahr Ausgangspunkt und Ort der documenta. Um die Bahn und die Bahnhöfe kreisen gleich mehrere Arbeiten: Tungas Koffer gehören dazu, Danielle Vallet Kleiners Video in der Bahnhofsmission, Penny Yassours plastische Arbeiten zur deutschen Eisenbahnkarte von 1938 und endlich auch Lois Weinbergers Garten auf dem stillgelegten Hauptbahnhofsgleis.
Der wohl am schwersten zugängliche Komplex in diesem Themenbereich ist die Installation von Reinhard Mucha (Jahrgang 1950). Mucha, von Catherine David ebenso geschätzt wie von ihrem sonst völlig konträr denkenden Vorgänger Jan Hoet, hat für die documenta X seine zwischen 1979 und 1982 geschaffene Arbeit „Wartesaal“ weiterentwickelt. Man sieht sich 12 eng gestellten Metallregalen gegenüber, die von dunklen Schrankvitrinen aus Stahl, Filz und Glas umgeben werden. Man blickt auf die Rauminstallation und sieht sich auf sich selbst zurückgeworfen – überall spiegelt sich im Glas der Raum. Das Rätselhafte verstärkt sich dadurch, daß Mucha ins Zentrum einen Wohnzimmerschrank aus Urgroßmutters Zeiten gestellt hat.
Am ehesten findet man vielleicht den Zugang über einen Tisch mit einer Leselampe. Dort steht ein Schild mit der Aufschrift „Speyer“ – ein Schild, wie es auf einem Bahnsteig als Kennzeichnung des Ankunftsortes angebracht ist. Es handelt sich aber nicht um eines der Emailschilder, die früher auf Bahnhöfen zu finden waren, sondern um eine weiß bemalte Tafel, auf die in Schablonenschrift der Name aufgetragen ist. Hat man entdeckt, daß in dem entsprechenden Regalfach Speyer die Tafel fehlt, dann kann man leicht nachvollziehen, daß in den zwölf Regalen mit den je 22 Fächern insgesamt 264 „Bilder“ mit Bahnhofsnamen liegen. Die Regale sind also ein Wartesaal für Ortsnamen und Reiseziele.
Der Wartesaal als Erinnerungs- und Sehnsuchtsraum. Es ist, als sei die glückliche und schreckliche Zeit der Bahnhöfe vorbei. Dort, wo es um Fortbewegung geht, herrscht Stillstand. Die Regale sind zwar mit Rollen versehen, aber sie sind so hochgestellt, daß sie nicht bewegt werden können. Vergangene Zeit. Nicht nur der alte Schrank kündet von ihr, sondern auch die hölzernen Stützpfeiler und Abfallkörbe in den Schrankvitrinen. Es ist, als sollten uns die letzten Reste einer Reisekultur überliefert werden.
Reinhard Mucha verarbeitet in seinen Installationen oftmals Kindheitserinnerungen. Immer reflektiert er auch den Kunstbetrieb und das Museum: Also sind auch die Regale mit den 264 Tafeln mit Ortsnamen Sinnbild für ein riesiges Bilderlager, ein Depot. Und die Schrankvitrinen, in denen hölzerne Abfallkörbe und Stützpfeiler wie kostbarstes Museumsgut präsentiert werden, kommentieren die Ausstellungstechnik und den Kult der Museen. Zugespitzt wird dieses Wechselspiel auf zwei Ebenen: Zum einen tragen die Schränke und Regale oben die gleichen Neonröhren, die von der Decke her den Raum erleuchten; Raum und Arbeit erhellen sich also gegenseitig. Und zum anderen klemmt eine der Regalvitrinen in einer Ecke einen zum Kunsttransport benutzten Rollwagen (mit einer Decke des Kunstspediteurs Hasenkamp) fest, so daß die bewegungslose Wartesaal-Situation auf die Kunst und das Museum übertragen wird.

HNA 26. 8. 1997

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