Wenig beachtet, aber in der Ausstellung relativ stark vertreten: die Zeichnung. Ihre Kraft wird von der documenta X neu entdeckt.
KASSEL Die Rolle der Zeichnung in der Kunst ist weit bedeutender, als die meisten Ausstellungen glauben machen. In sehr vielen Kunstschauen wird sie unterbewertet. Auch bei früheren documenten war es so. Deshalb wurde, um die Schuld abzutragen, zweimal der Zeichnung eine eigene Abteilung gewidmet – nämlich 1964 und 1977. Auch diese Ehrenrettungen eines künstlerischen Mediums bestätigten dessen Außenseiterrolle.
An dieser Stelle ist wiederholt darauf hingewiesen worden, welch schmalen Ausschnitt von der Malerei die documenta X präsentiert. Wenn man großzügig rechnet, kann man zehn Künstlerbeiträge der Malerei zuordnen. Vor diesem Hintergrund überrascht die vergleichsweise starke Präsenz der Zeichnung. Sie springt nicht so stark ins Auge, weil die Zeichnungen nicht zusammengefaßt, sondern in die Ausstellungs-Zusammenhänge integriert sind. Folgende Zeichner sind vertreten: Kulturbahnhof: Martin Walde, Anne-Marie Schneider, Matthew Ngui und Lois Weinberger; Fridericianum: Gerhard Richter, Maria Lassnig, Nancy Spero, William Kentridge, James Coleman, Ulrike Grossarth und Martin Walde; Ottoneum: Dorothee Golz und Thomas Schütte.
Die documenta X läßt sich dabei nicht auf die Diskussion über die autonome Zeichnung ein, also über die Arbeiten, in denen sich Künstler ausschließlich mit den zeichnerischen Mitteln auseinandersetzen. In den hier präsentierten Arbeiten geht es eindeutig um die Auseinandersetzung mit der Realität. Die Diskussion über das Fortwirken oder angebliche Ende der Moderne ist beiseitegeschoben. Mit frecher Naivität wird reflektiert und erzählt, werden Ängste und Alpträume beschworen, absurde Traumbilder umrissen und werden Bedrohungen geschildert.
Die documenta X bezieht in Bezug auf die Zeichnung unmißverständlich Position: Sie propagiert die Zeichenkunst, die sich zwischen expressiver Abstraktion und einem neuen sachlichen, am Comic orientierten Realismus bewegt. Dabei kippt der realistische Blick sehr schnell ins Surreale und Absurde um.
Erstaunlich ist, wie stark sich die politisch-kritischen Blätter von Nancy Spero zum Vietnamkrieg mit den Zeichnungen berühren, in denen sich Maria Lassnig mit den Stimmungen und Empfindungen der menschlichen Gestalt auseinandersetzt. Genauso spannend wie Lassnigs Blätter sind bei der Suche nach der Identität Thomas Schüttes 27 Zeichnungen zum „Portrait L.“, in dem die ganze Bandbreite von Ausdrucksweisen zwischen weiblichem und männlichem Wesen (und damit die Unsicherheit über das eigentliche Bild) sichtbar wird.
Die Zeichnungen von Matthew Ngui, Anne-Marie Schneider, Martin Walde und Dorothee Golz bedienen sich der naiven Mittel, wie sie in Werbung und im Comic üblich sind. Auch James Coleman greift darauf zurück; allerdings besteht seine Landschaftszeichnung aus einer Dia-Projektion.
Ganz unbedingt in diese Reihe gehört William Kentridge, dessen surrealer Zeichentrickfilm mit seinen absurden, tragikomischen Sequenzen zu den Glanzstücken der gesamten Ausstellung gehört. Als Betrachter des Films glaubt man, am Prozeß des Zeichnens teilhaben zu können.
Und schließlich darf nicht übersehen werden, daß man in dem großartigen Werk „Atlas“ von Gerhard Richter Dutzende eindringlicher Bild- und Raumstudien entdecken kann.
HNA 7. 8. 1997