Kommentar
Die documenta lebt. Mögen einige Kritiker sie noch so sehr in den Boden schreiben, mögen andere gar ausdrücklich von einem Besuch abraten – die Ausstellung bewährt sich als Publikumsrenner: Man fährt hin, weil sie zur Institution geworden ist.
Wichtiger noch als die Frage, ob die documenta X die Erwartungen erfüllen kann, ist die durch Besucherbefragungen erhärtete Erkenntnis, daß der documenta-Besuch vom interessierten Kunstpublikum offenbar als ein Muß empfunden wird. Ohne Zweifel haben die Entscheidung für Catherine David als documenta-Leiterin und deren Künstler-Auswahl zu einer Internationalisierung des Publikums beigetragen. Davon kann die Institution nur profitieren.
Die documenta X hat die Kunst in die Welt zurückgebracht. Das heißt: Die Ausstellung konzentriert sich auf solche Beiträge, die die Auseinandersetzung mit der harten Realität suchen. Sie hat die Kunst von ihrem schmükkenden Charakter befreit.Viele Kritiker haben genau diese Position gescholten, viele Besucher hingegen können damit gut leben. Der Streit darum muß geführt werden. Er sollte auch dann nicht gegenstandslos werden, wenn am Ende die Magie der Zahl überwiegt und der Besucherrekord eingestellt wird.
HNA 9. 8. 1997
Volle Zufriedenheit zur Halbzeit
309000 Besucher in 48 Tagen, 20000 Zuhörer bei „100 Tage – 100 Gäste“ und 79100 verkaufte Kurzführer. Gestern zog die documenta X eine überwiegend positive Halbzeit-Bilanz.
KASSEL Die zum Teil heftigen Verrisse der documenta X sind nicht vergessen. Sie würden, so documenta-Pressesprecherin Maribel Königer bei der Halbzeit-Pressekonferenz, in der künstlerischen Leitung sehr wohl diskutiert. Aber jetzt geraten sie erst mal in den Schatten der Erfolgszahlen, die die Statistiken liefern: Mit 309000 Besuchern in den ersten 48 Tagen (von 100) liegt die von vielen skeptisch beäugte Kunstschau noch vor der Rekord-documenta von 1992, die zur Halbzeit rund 260000 Besucher vermelden konnte.
Aber noch wichtiger als die bloße Gesamtzahl ist das Zwischenergebnis einer repräsentativen Erhebung, das Prof. Gerd-Michael Hellstern (Universität Gesamthochschule Kassel) gestern vortragen konnte: Der überwiegende Teil der 1132 Befragten findet die Ausstellung sehr (10,4 %), gut (34,8%) oder befriedigend (33,2%). So weicht die Durchschnittsnote mit 2,4 nur geringfügig von der ab, die 1992 gegeben wurde (2,25). Entscheidende Abweichungen registrierte Hellstern nur bei den begeisterten Zustimmungen – da gab es vor fünf Jahren mehr – und bei den entschiedenen Ablehnungen – deren Zahl ist in diesem Jahr mit sechs Prozent doppelt so groß.
Daß die documenta X gut läuft, hat allem Anschein nach mehrere Ursachen. Die erste und naheliegendste ist, daß sie zur Institution geworden ist: Mehr als die Hälfte der Besucher hat vorher zumindest schon eine weitere documenta gesehen und rund 72 Prozent können sich vorstellen, auch zur documenta XI nach Kassel zu kommen. Die zweite Ursache ist in dem stetig gestiegenen Medieninteresse zu sehen: Bisher haben sich rund 5700 Journalisten bei der documenta registrieren lassen, und Catherine David hat rund 800 Interviews gegeben.
Die Halbzeit-Pressekonferenz fand übrigens ohne Catherine David statt. Begründet wurde das damit, daß es in erster Linie um Zahlen und Statistiken und nicht Inhalte ginge. Aber natürlich lag der Gedanke nahe, daß man die documenta-Leiterin – nach den schlechten Erfahrungen bei der Eröffnungspressekonferenz – vor sich selbst (und unbedachten Äußerungen) schützen wollte. Die Erhebung der Forschungsgruppe von Prof. Hellstern brachte einige überraschende Ergebnisse zu Tage: Während früher unter den Besuchern die Männer in der Überzahl waren, sind es jetzt die Frauen (52:48). Auch hat sich die Internationalität des Publikums vergrößert: 23,5 Prozent der Besucher (1992: 20,8 %) kommen aus dem Ausland, wobei interessanterweise mehr von anderen Kontinenten (12,6%) als aus dem europäischen Ausland (10,9%) anreisen. Die treueste Ausländergruppe stellen nach wie vor die Niederländer (25,5%).
Offensichtlich hat sich frühzeitig der veränderte Charakter der documenta herumgesprochen: Während 1992 noch 44,2% meinten, sie kämen nach Kassel, um einen Überblick über die Kunst zu erhalten, und nur 24,8% das kulturelle Erlebnis suchten, steht jetzt der Wunsch nach dem kulturellen Erlebnis (37,9%) vor dem Verlangen nach einem Überblick (36,6%).
Die documenta ist ein Ereignis, das vorrangig von einem Fachpublikum besucht wird: 43,6 % sind beruflich interessiert, 74 % gehen jährlich mindestens vier mal in Ausstellungen. Diese Feststellung erklärt vielleicht auch, warum der heimische Besucheranteil eher gering ist – nur 13 Prozent kommen aus Kassel und Nordhessen.
Überraschend groß ist – aus der Sicht der documenta-Leitung das Echo auf die Veranstaltungsreihe „100 Tage – 100 Gäste“ in der documenta-Halle. Bisher kamen rund 20000 Zuhörer – 402 im Schnitt. Noch größer ist allerdings die Zahl derjenigen, die weltweit per Internet an der Diskussionsreihe teilhaben: Da sind es etwa 30000 pro Abend. Gut ausgelastet sind auch die täglichen Vorführungen der documenta-Filme, von denen „Mutter und Sohn“, „Am Ende“, Rostov-Luanda“ „Stillleben“ und „Chere Catherine“ jetzt auch zum Film-Festival in Locarno eingeladen wurden.
HNA 9. 8. 1997