Die Sache mit dem Stuhl

Der Stuhl ist ein Sitzplatz und bietet demjenigen Halt, der im offenen Raum stehen muß. Er ist mehr als ein Möbelstück. Vier documenta-Künstler haben sich mit dem Stuhl auseinandergesetzt.

KASSEL Die begehrtesten Kunstobjekte der documenta X sind die Stühle des Österreichers Franz West. Allabendlich, wenn ab 18.30 Uhr die Zuhörer in die documenta-Halle drängen, um einen guten Platz für die Veranstaltung „100 Tage – 100 Gäste“ zu ergattern, sind West mit fröhlich-bunten Stoffen überzogene Sitzmöbel heiß begehrte Objekte. Meist reichen die 288 Stühle nicht aus.
Manchen Zuhörern wird gar nicht bewußt sein, daß sie da auf einem Teil eines documenta-Beitrags Platz nehmen. Franz West ist diese Irritation nur recht, denn er hat seine Freude daran, den Kunstbetrieb zu unterlaufen und gerade das zu tun, was man nicht erwartet. Er verweigert das (herkömmliche) Bild, verwandelt dann aber mit Hilfe seiner Stühle die Halle in ein Bild.
Zwei Dinge sind in Wests Werk konstant: Immer wieder kehrt er zur einfachen, zur primitiven Form zurück; und so sind auch seine Stahlstühle roh geblieben. Außerdem haben die meisten seiner Objekte einen unmittelbaren Bezug zum Körper. Während bisweilen seine Liegen an Fakirbetten erinnern, gibt sich West hier mit seinen Stühlen einladend.
Den wohl faszinierendsten Stuhl hat Matthew Ngui im Kulturbahnhof geschaffen: Immer wieder probieren die Besucher aus, wie sich der Stuhl vor ihren Augen zu einem stabilen Objekt zusammenfügt, um gleich darauf wieder in zwei Teile – in eine Stuhlhälfte und in eine Raumprojektion – zu verfallen. Schein und Wirklichkeit liegen, so klingt die Botschaft, so dicht beieinander, daß sie zur Einheit werden können. Um dies zu erfahren, muß man nur bereit sein, den Blickwinkel zu ändern.

Was im ersten Moment als spielerischer Einfall erscheint, erweist sich als sinnliche Einführung in die Sehschule und in das Nachdenken über das Wesen des Bildes. Vertieft wird die Erfahrung durch Nguis Video, in dem er vorführt, wie er durch seinen Stuhl hindurchlaufen kann.
Zwar ein richtiges Objekt aber als solches doch nur ein unerreichbares Bild ist die „Hohlwelt“ von Dorothee Golz im Ottoneum, bei der eine Lampe, ein Stuhl und ein ungewisses Objekt (alle stromlinienartig verformt) in einer kugelrunden Plastikblase stehen. Die Objekte werden zu einem Traumbild – eine verdinglichte Sprechblase, die an den „Wohnsimulator“ (außen am Fridericianum) von Haus-Rucker-Co zur documenta 5 erinnert.
Um Stühle dreht sich ebenfalls Edgar Honetschlägers Arbeit im Ottoneum, auch wenn man zuerst meint, es ginge um Aktfotografie: Honetschläger besorgte sich aus dem amerikanischen Sperrmüll Stühle und ließ sie nach Japan schaffen, um dort Menschen (angezogen und schließlich auch nackt) auf ihnen sitzen zu lassen. Die Sperrmüllmöbel sind für ihn ein Symbol. Die Japaner, so seine These, seien von den Amerikanern so sehr geprägt, daß sie mit deren Abfall-Produkten leben müßten. Und indem er 14 Japanerinnen und Japaner bat, nackt (vor der Kamera) einen Stuhl in Besitz zu nehmen, spitzte er dieses Ungleichverhältnis der beiden Kulturen zu: Mit der Kleidung, so scheint es, haben die Japaner ihr Selbst verloren.

HNA 1. 8. 1997

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