Zur Nachspeise nach Münster

Leistet die Ausstellung „Skulptur. Projekte in Münster 1997“ das, was die documenta X ihren Besuchern versagt? Ein Vergleich der beiden Großausstellungen ist unumgänglich.

MÜNSTER Unübersehbar steht der erste Ausstellungsbeitrag in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs von Münster: ein Pavillon im Nierentisch-Stil der 50er Jahre, gebaut aus lauter leeren Mineralwasserflaschen-Kisten. Vier solcher turmhohen Pavillons von Wolfgang Winter und Berthold Hörbelt flankieren die Schau „Skulptur. Projekte in Münster 1997“. Sie dienen als Informationsstände für die Ausstellung und wirken luftig und heiter.
Heiter und gelöst ist überhaupt die Grundstimmung in Münster, die zum dritten Mal seit 1977 eine Parallelausstellung mit dem Schwerpunkt Skulptur zur Kasseler documenta erlebt. War die erste eher historisch orientiert und nur auf einige wenige (und dazu umstrittene) Großprojekte im Stadtbereich beschränkt, trug die Veranstaltung von vor zehn Jahren dazu bei, in der westfälischen Stadt die Skulptur im öffentlichen Raum durchzusetzen. Damals wurden zahlreiche bemerkenswerte Skulpturen-Projekte auf Dauer eingerichtet.
Während 1987 die Münsteraner Schau als eine Verlängerung der documenta 8 gesehen wurde, haben sich einige Kritiker, die sich mit der documenta X nicht anfreunden konnten, erleichtert der Skulpturen-Ausstellung zugewandt: In Münster, so ist zu hören, werde die Kunst noch gepflegt, wie man es von einer solchen Großausstellung erwarte.
Wenn man von einer Kunstveranstaltung Unterhaltung erhofft, ist das richtig. Unterhaltung wird reichlich geboten. Das fängt damit an, daß man am besten am Bahnhof oder Landesmuseum ein Fahrrad mietet, mit dem man durch die Stadt und Parks fährt, um die weit auseinanderliegenden Standorte der Kunstwerke innerhalb von mindestens drei bis vier Stunden zu erreichen.

Es ist, als feiere Münster ein Fest: Den Himmel über dem Prinzipalmarkt im Zentrum hat der Franzose Daniel Buren rot-weiß verhangen; ein Meer von Wimpeln flattert über der Straße und verbreitet eine Stimmung wie zum Karneval. Heiter ist die Kunst – auch bei Tadashi Kawamata. Der Japaner, der zur vorigen documenta ein hölzernes Hüttendorf erbaut hatte, lädt nun mit einem hölzernen Fährboot zur Fahrt über den Aasee ein.
Die Stadt als Bühne und die Kunst als Dekoration. Überdeutlich wird das in dem Beitrag von Nam June Paik. Der Künstler, der zu den Erfindern der Video-Skulptur gehört, schuf für Münster ein plakatives und doch enttäuschendes Bühnenbild: Vor der Kulisse des Schlosses formierte er 32 alte amerikanische Autos, die er mit einem silbernen Überzug übersprüht hat, zu vier verschiedenen Figuren. Das Auto als Fetisch ist so oft vorgeführt worden, daß die Wirkung schnell verpufft.
Während in Kassel die documenta die Stadt und deren Probleme kommentiert, wird in Münster nur dekoriert. Es ist, als gäbe es in Kassel das Hauptgericht und in Münster die Nachspeise. Vieles ist austauschbar und hat nur mit sich selbst zu tun. Dagegen wird in der documenta erfolgreich der Versuch unternommen, die Kunst aus dem Unverbindlichen herauszuholen und ihr einen notwendigen Platz in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zuzuweisen.
Das heißt nicht, daß in Münster keine ernsthaften oder guten Arbeiten zu finden wären. Daniel Burens Fähnchen-Parade etwa gehört zu seinen gelungensten Projekten. Auch Ilya Kabakov überrascht wieder mit einer wunderschönen Arbeit: Er hat eine riesige ovale Antenne aufstellen lassen; die Besucher lädt er zum Liegen auf der Wiese darunter ein, damit sie die in die Antenne eingeschriebenen Botschaften lesen können. Und weit stärker als sein Plakatentwurf für Kassel ist Hans Haackes Beitrag für Münster: Dem runden Kriegerdenkmal hat er ein zweites Rund aus Brettern hinzugesellt. Hinter den Brettern dreht sich ein Kinderkarussell. Der Krieg als Kinderspiel und unendlicher Kreislauf?
Es gibt etliche Berührungspunkte zwischen Münster und Kassel – nicht nur durch das Dutzend Künstler, das in beiden Städten vertreten ist. Am nächsten kommen sich die Ausstellungen dort, wo sie sich kritisch mit der Stadt an deren unliebsamen Orten – den Unterführungen – auseinandersetzen.
Die Ausstellung in Münster führt vor, daß die Skulptur als traditionelle Plastik kaum noch eine Rolle spielt. Die Installation in den verschiedensten Formen ist an deren Stelle getreten. Das gilt auch für den Ausstellungsteil im Landesmuseum, der erstaunlich lieblos arrangiert ist. Also wieder ab nach Kassel.

HNA 26. 7. 1997

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