Zwischen Ankunft und Abreise

Der Kasseler Kulturbahnhof ist mehr als nur der Startpunkt für den documenta-Parcours. Er ist Symbol für das Unterwegs-Sein, Ankommen und Abreisen.

KASSEL Wo kommen wir zu uns selbst? Manchmal entsteht das Gefühl, die Selbstfindung gelinge nur, wenn wir nicht gerade dort sind, wo wir hingehören. Wir lieben es, fern der Heimat Zuflucht zu suchen. Das aber heißt, daß die Bahnhöfe (und Flughäfen) zum Symbol unserer Zeit geworden sind: Unterwegssein, so scheint es, verschafft uns erst Sinn.
Insofern ist die Entscheidung, den Kasseler Kulturbahnhof (Hauptbahnhof) zum Ausgangspunkt des documenta-Parcours zu machen, nicht nur eine lokalpolitische kluge Entscheidung. Vielmehr wird der Ausgangspunkt selbst zum Sinnbild: Der Bahnhof als Ort des Übergangs – von dort aus gelangt man ins Zentrum und dort auch beginnt jener städtische Raum, der anscheinend jede Ordnung entbehrt.
Der Bahnhof ist ein Ort mit einem Janus-Gesicht. Er lädt zur kurzweiligen Reise und zum Urlaub ein. Er ist aber auch die Umschlagstation für Zwangstransporte ins Unheil und in den Tod. Der Brasilianer Tunga erinnert mit seiner Installation auf einem Bahnsteig daran: Von dem Bahnsteigdach hängen Netze mit Koffern herunter, aus denen Knochen fallen. Und aus der Ferne fröhlich wirkende Hüte im Riesenformat sind mit Totenschädeln dekoriert.
Natürlich ist der Gedanke gleich da, daß es die Bahnhöfe waren, von denen in der Nazi-Zeit die Transporte in den Massentod starteten. Und wenn man im Zwehrenturm in dem Raum von Penny Yassour vor den plastischen Arbeiten mit der Eisenbahnkarte Deutschlands von 1938 steht, erhärtet sich dieses Gefühl.
Unterwegs sein: Es gibt etliche Beiträge in der documenta X, die sich diesem Thema widmen. Eine der gelungensten Arbeiten ist die von Danielle Vallet Kleiner – eine Video-Installation in den Räumen der früheren Bahnhofsmission auf dem Kulturbahnhof. Während der Film in eigenwilliger Weise von einer Reise von Istanbul nach Helsinki erzählt, erlebt sich der Zuschauer selbst in einer Atmosphäre, in der er sich als Fremder fühlt: Ist er Objekt der Missions-Fürsorge oder wird ihm nur alles vorgespielt?
Wie der Anfangs- so ist auch der Endpunkt des documenta-Parcours auf das Unterwegssein eingestimmt. Das räumlich letzte Werk ist am Fuldaufer der „Transportable U-Bahn-Eingang“ von Martin Kippenberger. Hinabsteigen kann man nicht, aber gedanklich abtauchen und sich auf Reisen begeben. Ein sehr poetisches, leicht übersehenes Ende des Parcours.
Von dort aus gelangt man gedanklich schnell zur Skulpturen-Ausstellung in Münster, wo von Kippenberger ein U-Bahn-Entlüftungsrohr liegt, aus dem alle fünf Minuten zur Überraschung der Passanten ein richtiges Fahrgeräusch kommt. Und dann geht es weiter zu den U-Bahn-Stationen in aller Welt, die sich Kippenberger ausgedacht hat und die er auf der Ebene miteinander vernetzt hat, auf der es für diesen Spiel keine Grenzen gibt – im Internet. Kippenbergers Arbeit stellt die wohl überzeugendste Verknüpfung zwischen realem Objekt und virtueller Projektion her.

HNA 4. 8. 1997

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