Diesseits und jenseits der Grenzen

Ein Generalthema der documenta X ist die Frage nach der Identität des Menschen. Wie steht er in Beziehung zu städtischen, nationalen und globalen Strukturen? Wie entzieht er sich den Systemen?

KASSEL Wir bewegen uns in abgegrenzten Räumen. Hier gehören wir zu einer bestimmten Gruppe, dort sind wir der Nationalität nach Fremde. Stets überschreiten wir Grenzen – ob jemand vom Mieter zum Hauseigentümer wird oder ob ein anderer durch eine militärische Besetzung zum Untertan zweiter Klasse wird. Und da sich jeder von uns in wechselnden Ordnungssystemen bewegt, haben wir alle es mit mehreren Identitäten zu tun.
Mehrfach wurden diese Fragen in der Reihe „100 Tage – 100 Gäste“ diskutiert. Aber auch in der Ausstellung der documenta X werden sie thematisiert. Da ist beispielsweise der amerikanische Künstler Gordon Matta-Clark (1943 – 1978), der 1973 fünfzehn Kleinstparzellen in Queens (New York) ersteigerte. Es handelte sich um Restgrundstücke – ein Asphaltstreifen an einer Garageneinfahrt, Gehwegabschnitte und Rinnstein. Die von ihm erworbenen „Grundstükke“ hat er fotografisch dokumentiert; in der Ausstellung sind sie als eine geschlossene Bildserie zu sehen. Zwei Dinge bezweckte Matta-Clark damit: Einerseits wollte er zeigen, wie es mitten in der Stadt Niemandsland geben kann, und andererseits trieb er den Drang, Grundstücke zu erwerben und die Welt in Eigentumsabschnitte aufzuteilen, ironisch auf die Spitze.
Das Problem des Niemandslandes fasziniert auch den Schweden Carl Michael von Hausswolff (Jahrgang 1960), der einen fiktiven eigenen Staat gründete, zu dessen Territorium alle Gebiete gehören, die zwischen den Staatsgrenzen liegen. Es ist also ein Staat, der sich aus lauter Niemandsländern zusammensetzt. Die Umsetzung dieser Idee für die documenta ist aber nicht so prickelnd wie die Ursprungs-idee: Hausswolff grenzte die Rasenflächen und Blumenbeete vor dem Ottoneum mit elektrischen Zäunen ein. Eine Verbindung führt in das 2. Stockwerk des Museums, in dem die akustisch verstärkten Elektroimpulse wie Herzschläge durch den Raum dröhnen.
In ihr eigenes, virtuelles Niemandsland entführen die israelischen Künstler Aya und Gal, die mit ihrer Installation aus CD-Rom und Video-Projektion zu einer Reise durch das Zentrum von Jerusalem einladen, bei der die Grenzen der realen Macht übergangen werden.

HNA 23. 7. 1997

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