Die Ausstellung, mit der sich Catherine David 1995 als Kuratorin der Pariser Kunsthalle Jeu de Paume verabschiedete, war der Filmemacherin Chantal Akerman und dem Künstler Jeff Wall gewidmet. Spätestens von da an war voraussehbar, daß Wall zu den zentralen Künstlerfiguren der documenta X gehören würde. Für Kassel und die documenta war der 1946 im kanadischen Vancouver geborene Wall allerdings kein Unbekannter mehr: Bereits 1982 und 1987 war Wall mit seinen in Leuchtkästen präsentierten Cibachrom-Fotos vertreten.
Jeff Wall war damals (in den 80er Jahren) als Fotograf betrachtet worden. Mittlerweile werden er und seine Arbeit anders gesehen: Als die Jeff Wall-Ausstellung ins Wolfsburger Kunstmuseum kam, bezeichnete dessen Direktor die großformatigen Leuchtkastenfotos als eine neue Form der Malerei. Wie ist das möglich? Die naheliegendste Beziehung stellt sich durch das Format her, denn Walls Bilder entwickeln die Kraft von Gemälden.
Aber viel entscheidender ist ein anderes Element: Jeff Wall komponiert seine Fotos in ganz ähnlicher Weise, wie es klassische Maler tun. Obwohl seine Bilder wie Schnappschüsse wirken, handelt es sich um Aufnahmen, die streng inszeniert und dann noch im Labor oder am Computer bearbeitet sind. Das heißt: Jeff Wall arbeitet so lange an dem Motiv, daß die Fiktion deckungsgleich mit einer idealtypischen Momentaufnahme wird.
Die documenta X präsentiert Arbeiten von Wall an zwei höchst unterschiedlichen Orten: Im Fridericianum werden mehrere großformatige Schwarz-Weiß-Bilder mit einem farbigen Stilleben konfrontiert. Noch eindringlicher allerdings wirkt Walls Leuchtkastenbild in der Unterführung am Bahnhofsvorplatz, das einen auf der Straße lebenden Mann zeigt, dem die Milch aus einer Tüte wegspritzt. Dort werden das Kunstmotiv und dessen Umgebung nahezu identisch. Heute abend spricht Wall über seine Arbeiten.
HNA 13. 8. 1997
Annäherung an Kino und Malerei
Der kanadische Künstler Jeff Wall (Jahrgang 1946) sieht sich und seine Arbeit im Spannungsfeld von Fotografie, Malerei und Kino. Der documenta-Künstler sprach in Kassel über sein Werk.
KASSEL Die documenta X überfordere ihre Besucher dadurch, daß sie an zu vielen Wänden kleine Schwarz-Weiß-Fotos präsentiere. Dieser Vorwurf tauchte gleich mehrfach in Kritiken auf. Nun ist in der Auseinandersetzung um Kunst weder der Verweis auf das Medium Fotografie noch auf die Bildgröße ein tragfähiges Argument. Gleichwohl erhielten die Kritiker jetzt indirekt Schützenhilfe von documenta-Künstler Jeff Wall, der mit großformatigen Leuchtkastenbilder im Museum Fridericianum und in der Unterführung am Hauptbahnhof vertreten ist. Denn seiner Ansicht nach litt die Kunstfotografie früher darunter, daß die Fotografen immer einen Bildband vor Augen gehabt und deshalb kleine Formate produziert hätten.
Jeff Wall hält es für wesentlich, daß ein in der Ausstellung zur Diskussion gestelltes Foto physische Kraft bekommt und im Raum von mehreren Personen gleichzeitig erfahren werden kann. Gleichzeitig will er die Präsenz der Malerei und des Kinobildes für seine Fotografie gewinnen. Also plädierte er dafür, Fotos in Gemäldegröße zu zeigen. Er selbst verarbeitet seine Aufnahmen zu Großdias, die er in Leuchtkästen zeigt – in jüngster Zeit vermehrt in Schwarz-Weiß.
Zu seiner eigentlichen Arbeitstechnik sagte Wall in seinem Vortrag im Rahmen der Reihe „100 Tage – 100 Gäste“ überraschend wenig. Nur auf eine Nachfrage erläuterte er, daß er sich auch der digitalen Montage bediene, die allerdings für den Betrachter nicht erkennbar ist. Doch genau diese Technik berührt ein Grundproblem der künstlerischen Fotografie allgemein und speziell von Walls Werk. Denn hier geht es um das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion.
Jeff Wall, der die Fotografie eindeutig in der Nachfolge der Malerei sieht, bedient sich in seinen Arbeiten der Stilmittel der Dokumentation. Die Bilder erscheinen wie Schnappschüsse, also wie unmittelbare Abbilder der Wirklichkeit. In Wahrheit sind die Motive aber von ihm arrangiert und nachbearbeitet – und zwar so, daß sie zu idealtypischen Schnappschüssen werden.
Wall hat damit, wie er auch in seinem kleinen Abriß zur Fotografie-Geschichte erklärte, die traditionell dokumentarisch angelegte Lichtbildkunst überwunden, um auf der Grundlage von Konzept und Aktion zu einer neuen Wirklichkeitsdarstellung zu gelangen – mit Hilfe von Distanz und Erinnerung.
HNA 15. 8. 1997