Kunst in der Welt verankert

Die documenta X hat bei ihren Publikationen einen neuen Weg eingeschlagen. Statt des üblichen Kataloges gibt es ein Grundsatzbuch und einen Kurzführer.

KASSEL Das Wort von der theorielastigen documenta nistete sich ein, bevor überhaupt eine ungefähre Vorstellung von der Ausstellung möglich war. Wesentlich dazu beigetragen haben die drei Hefte, die zur inhaltlichen Einstimmung gedacht waren, die „documenta documents“. Zwar ebneten die Illustrationen der Hefte den unmittelbaren Zugang zur documenta, die Texte erforderten jedoch geistige Einübung. Die Botschaft war klar: Hier gibt es nichts umsonst – auch wenn der Preis mit Gedankenarbeit beglichen werden muß.
Trotzdem wäre es falsch, nur von einer Theorie-Zumutung zu sprechen. In den Texten der „documents“ geht es um Kultur und Gesellschaft, um Kunsttheorie und auch Poesie: Die Sprache führt zum Bild und das Bild zum Gedanken. Genau auf dieser Basis ist auch „das Buch zur documenta X“ angelegt, das in seinem Titel mit der Wechselbeziehung der Wörter „Politics“ und „Poetics“ spielt. Die Begriffe Politik und Dichtung (oder: Kunst und Gesellschaft) grenzen den Bezugsrahmen ein, in dem sich die documenta als Ausstellung bewegt, in dem sie aber auch zu einem Diskurs jenseits der Objekte und Bilder einladen will.
Ausstellungskataloge enthalten normalerweise einige kluge (hochgestochene) Essays und dokumentieren in Wort und Bild wesentliche Teile der Kunstschau. Auch „das Buch zur documenta X“ wartet mit Bilddokumenten zu allen in der Ausstellung vertretenen Künstlern auf. Aber diese Dokumentation ereignet sich fast beiläufig – die Fotoseiten sind in den dickleibigen Band eingestreut. Dessen eigentliche Qualität liegt auf einer anderen Ebene: Er ist eine gewaltige und dabei faszinierende Collage, die schier Unmögliches versucht – eine Bestandsaufnahme der kulturellen und künstlerischen Entwicklung seit Ende des Krieges, verbunden mit einer Reflexion über politische gesellschaftliche, stadtplanerische und architektonische Diskussionen.
Wenn documenta-Leiterin Catherine David immer wieder von der Komplexität kultureller Prozesse spricht, um zu begründen, warum man nicht mehr die Kunst isoliert betrachten dürfe, dann umreißt sie im Grunde das gedankliche Konzept für das Buch: Es wird Zeit, die Elemente unseres Lebens, die sich gegenseitig bedingen, die wir aber immer wieder trennen, zusammenzubringen – Kunst und Literatur, Architektur und Politik, Philosophie und Film, Dokumentation und Dichtung. Das heißt: Dieses Buch ist vieles zugleich – Katalog und Theoriebuch, Künstlerbuch und poetische Sammlung.

„das Buch zur documenta X“ ist ein Wagnis, aber ein gelungenes. Möglicherweise werden viele seine Qualität erst später erkennen. Über etliche Positionen wird man streiten können, aber es gibt bislang kein vergleichbares Werk über die Kunst, Kultur und Politik der Zeit seit 1945.
Ein ähnlich uneingeschränktes Loblied kann man auf den Kurzführer leider nicht singen. Er leidet darunter, daß er zum documenta-Start rechtzeitig fertig sein sollte und deshalb viele Werke in der Ausstellung nicht berücksichtigen konnte. Schmerzlich vermißt man auch bei den Texten Hinweise auf die Ausstellungsorte. Und schließlich ist die Qualität gerade der deutschen Texte unbefriedigend. Da wird man in Englisch oftmals weit besser bedient.

HNA 5. 8. 1997

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