Schichten der Erinnerung

Hans-Jürgen Syberberg stellte in der Reihe „100 Tage – 100 Gäste“ einen Video-Film über seine zur documenta X geschaffene Video-Installation „Cave of Memory“ (Höhle der Erinnerung) vor.

KASSEL So, wie er auftritt, wirkt er wie ein Ästhet – feinsinnig und nach innen hörend; einer, der Stil hat und der sich nicht in Szene setzen muß. Ruhe und Gelassenheit zeichnen ihn aus. Der Regisseur Hans-Jürgen Syberberg spricht in der documenta-Halle darüber, daß er das heutige Theater ebensowenig mag wie das Kino. Er hält den Zwang der engen Sitze nicht aus, auch nicht das Dunkel, aus dem man nach vorne starren muß, und nicht das Diktat der Bühne oder der Leinwand.
Also empfindet er seine für die documenta X entwickelte Arbeit „Cave of Memory“ als einen Akt der Befreiung: 31 Video-Filme, gezeigt von 21 Monitoren und zehn Projektoren, überlagern sich in dem langgestreckten Raum. Ein Stationendrama ist entstanden, das schichtenweise die Geschichte freilegt. Jeder Besucher kann sich in diesem Raum frei bewegen und seine persönliche Bezüge schaffen. Er kann in Ruhe ausharren, fast eine Stunde, um Mozarts Requiem zu hören und die Noten zu lesen. Er kann Bilder von der Baustelle Berlin betrachten. Immer wieder aber wird er von der Sprach- und Bühnengewalt Oskar Werners angezogen, dessen „Prinz von Homburg“ eigenwillig fasziniert, dessen Faust an Kinski erinnert und von dem zwischendurch die jugendliche Totenmaske mit dem Altersbild konfrontiert wird.
Höhle der Erinnerung: Wie sich vor unserem inneren Auge die Bilder überlagern, wie sich eins über das andere schiebt und wir wahllos Sprünge durch die Zeiten machen, so schichten sich die Bilder und Szenen in Syberbergs Arbeit: Eitle Nazi-Größen, Höllenfahrt-Details aus der Malerei, DDR-Architektur, Baustellen-Werbung, Platons Höhlengleichnis von der Lüge der Schatten und der Wahrheit der Erscheinungen und immer wieder Theater. Es ist ein Graben in der Geschichte und ein vielstimmiger Abgesang auf das Leben. Alles scheint im Schatten des Todes zu stehen – das Schillertheater, das geschlossen wurde, der Prinz von Homburg auf der Bühne, der Schauspieler Werner, der kurz vor seinem Ende diesen Prinzen spielt, und das alte Berlin, das mit der neuen Architektur untergeht.
In größter Ruhe und Weisheit erläutert Syberberg, wie sich die Bausteine seiner Arbeit zueinander verhalten. Um so größer ist beim Publikum die Überraschung dann darüber, von welcher Kurzatmigkeit der Film geprägt ist, den Syberberg mit einer Handkamera über diese Arbeit produzierte. Dieser Film versucht, einen Gang durch die Installation nachzuvollziehen. Wie man sich abrupt von einem Video-Bild ab- und dem nächsten zuwendet, so vollführt die Kamera abrupte Schwenks. Eine neue, amateurhafte Ästhetik entsteht. Die mißfiel manchen Zuschauern. Sie ist aber von höchster Wahrhaftigkeit, weil sie genau das Wahrnehmungsverhalten spiegelt: Blick vor, Blick zurück und wieder vor. Ein Abend, der zum Streit einlud.

HNA 12. 8. 1997

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