Der Mensch, die Gewalt und der Stuhl

Neue Galerie zeigt Neuerwerbungen Documenta11Arbeit von Doris Salcedo im Zentrum

KASSEL. Die Neue Galerie in Kassel ist vorrangig ein Museum für die Malerei vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In zweiter Linie ist sie ein Museum für die Skulptur der Moderne. Seit diese beiden klassischen Medien nicht mehr das Zentrum der documenta bilden, also spätestens seit 1997, sind Ankäufe aus einer documenta für die Neue Galerie zwangsläufig Problemfälle. Wäre die Neue Galerie eine Art documenta-Museum, wäre die Entscheidung leicht gefallen. Denn dann hätten sich die Schwerpunkte der Ausstellung wie Fotografie und Video in den Ankäufen spiegeln müssen. Da aber die Ankäufe mit Blick auf den Museumsbestand erfolgen und für die derzeitige Sammlungspolitik Video und Fotografie keine Themen sind, durfte man gespannt sein, für welche Documenta11-Arbeit(en) die Sonderankaufsmittel in Höhe von 300000 Euro eingesetzt würden. Die Auswahl der neunteiligen Skulpturengruppe Thouless der Kolumbianerin Doris Salcedo (Jahrgang 1958) überrascht insofern, als dadurch der Bereich der zeitgenössischen Skulptur und Installation in der Neuen Galerie aus seiner Randexistenz herausgeholt und zu einem neuen Schwerpunkt gemacht wird. Jetzt muss der zweite Schritt getan werden und in der Neuen Galerie auch der Raum für den neuen Schwerpunkt geschaffen werden. Doris Salcedos Installation, zu der noch weitere Arbeiten gehörten, hatte innerhalb der Documenta11 im Fridericianum eine Schlüsselposition erhalten. Allerdings hatten manche Besucher diese spröden, kaputten und ineinander verkeilten Stuhlformen angesichts der plakativen Bilder von Leon Golub an den Wänden übersehen. Die Stuhlformen aus rostfreiem Stahl bewahren etwas von dem politisch-kritischen Geist, von dem die Documenta11 geprägt war: Doris Salcedo schuf die Arbeit in Erinnerung an politische Gewaltakte in ihrem Lande: Menschen wurden terrorisiert. Doris Salcedo wählte den Stuhl, um ihn als Symbol für den Menschen und sein Schicksal zu nehmen. Je mehr man sich auf diese bildliche Umsetzung einlässt, desto sprechender und anklagender wird die Arbeit. Neben diesem zentralen documenta-Werk werden bis zum 2. März in der Eingangshalle der Neuen Galerie auch kleinere Neuerwerbungen, darunter eine Tuschezeichnung von Henri Michaux und Linolschnitte von Philipp Hennevogl, vorgestellt. Vor dem Hintergrund der Sammlungspolitik überrascht, dass drei fotografische Arbeiten von Kasseler Künstlern angekauft wurden. Die Spitzenarbeit ist eine fotografische Montage im Großformat von Ute Lindner, die sich mit den Räumen der Neuen Galerie auseinander gesetzt hat. Durch die raffinierte Verquickung verschiedener Ansichten hat sie den Blick in eine Raumflucht geschaffen, die es nicht gibt. Auch Martin Brüger widmet sich in seiner dreiteiligen Arbeit der Innenarchitektur der Neuen Galerie. Sein Blick konzentriert sich auf die farbigen Wände im Fußleistenbereich. Das Nichtssagende gewinnt dadurch Bild- und Objekt-Qualität. Von Thomas Bachler schließlich wurden fünf Fotos aus der schönen Serie Übers Lesen erworben. Man blickt jeweils einem Lesenden über die Schulter. Doch die Texte der Bücher sind spiegelverkehrt, also nicht zum Lesen geeignet.
HNA 29. 12. 2002

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