Wenn die Welt Kopf steht

Der Maler und Bildhauer Georg Baselitz wird heute 65 Jahre alt

Bis in die späten 80er-Jahre konnte sich die Neue Galerie Kassel rühmen, das einzige deutsche Museum zu sein, das Georg Baselitz Werk in ansehnlicher Weise präsentiert. Aber diese Zeit ist vorbei. Die beiden Leihgabenkomplexe, die dies ermöglichten, wurden aus Kassel abgezogen. Außerdem ist Baselitz heute mit Bildern und Skulpturen in allen wichtigen Museen für zeitgenössische Kunst vertreten. Der als Hans Georg Kern in Deutschbaselitz (Oberlausitz) geborene Künstler wird heute 65 Jahre alt. Seinen Hauptwohnsitz und sein überdimensionales Atelier hat er in Schloss Derneburg (nahe Hildesheim). Dort sorgte er 1992 für Unruhe, als er der Kirche der Nachbargemeinde Luttrum sein Bild Tanz ums Kreuz mit einem Kopf stehenden Gekreuzigten schenkte. 100 Luttrumer Bürger ließen sich daraufhin in andere Kirchen ummelden. Ist Georg Baselitz ein Provokateur? In gewisser Weise schon. Zumindest schwimmt er gegen den Strom. Als in den 60er-Jahren die abstrakte Kunst triumphierte, pflegte er eine primitiv wirkende gegenständliche Malerei, die von Antihelden beherrscht war. Ende der 60er-Jahre entschied er sich, auf seinen großformatigen Bildern seine Motive (Menschen, Adler, Wälder, Stillleben) Kopf stehen zu lassen. Allerdings bestand er lange darauf, diesen Weg nicht aus Provokation gewählt zu haben. Er wollte lediglich dokumentieren, dass es in seinen Bildern nicht um die Inhalte gehe, sondern um die Malerei. Georg Baselitz ist ein Maler, der sich von allen Vorbildern und Traditionen frei macht. Wenn ich ein Gemälde anfange, dann beginne ich Dinge zu formulieren, als wäre ich der Erste, der Einzige, sagte er kürzlich in einem Gespräch. Ähnlich verfuhr er, als er 1980 begann, rohe Holzskulpturen mit Kettensäge und Meißel aus einem Baumstamm zu arbeiten. Auch seine erste Skulptur, die er 1980 in Venedig zur Biennale präsentierte, wurde als Herausforderung verstanden. In der Arbeit an den Skulpturen verbirgt sich ein Dialog mit der traditionellen Kunst Afrikas, die er auch selbst sammelt. Seit 1972 wurde Baselitz drei Mal zur documenta nach Kassel eingeladen. Rudi Fuchs feierte ihn 1982 als einen seiner Helden in der documenta7. Aber bis dahin war es für den Künstler ein schwerer und steiniger Weg gewesen. Lange war er in Deutschland nicht gebührend zur Kenntnis genommen worden. Erst die Welle der Neuen Malerei um 1980 spülte auch ihn nach oben. 1986 wurde er mit dem Goslarer Kaiserring geehrt. Heute zählt Baselitz international zu den gefragtesten deutschen Künstlern. Seine Bilder sind für Museen wie die Neue Galerie unbezahlbar. Der Entwicklung der Malerei hat Baselitz starke Impulse gegeben. Dabei hat er eine Phase abstrakter Malerei durchlaufen, in der die Farbe auf der Leinwand fast körperliche Gestalt gewann. Nicht zu vergessen der Holzschnitt, den er kraftvoll wieder belebte.
HNA 23. 1. 2003

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