Zwischen Sinnlichkeit und Politik

Biennale von Venedig geht zu Ende Ausufernde Ausstellung mit einigen profilierten Beiträgen

Der Besuch der Kunst-Biennale in Venedig ist immer ein Gewinn. Dank der ausufernden Ausstellungen, die immer neue Gebäude erobern, wird man stets aufs Neue in den Bann dieser von Wasser durchspülten Stadt gezogen, bei der man nie weiß, ob sie der ewigen Schönheit oder dem Verfall näher ist. Aber nur in dieser Beziehung sticht die Biennale-Stadt den Heimatort der documenta regelmäßig aus. Die Ausstellungen, die alle zwei Jahre an die Lagune locken, ließen in der vergangenen Zeit häufig an Überzeugungskraft fehlen. Auch Harald Szeemann, der mit seiner documenta5 (1972) Ausstellungsgeschichte schrieb, konnte 1999 und 2001 mit seinen Versuchen, rasch auf die Globalisierung und Politisierung der Kunst zu reagieren, nicht den Qualitätssprung schaffen. Die 2002 von Okwui Enwezor geleitete Documenta11 war in dieser Beziehung ernsthafter und weit reichender angelegt. Nun allerdings deutete sich für dieses Jahr eine Wende an. Zur 50. Biennale von Venedig wartete Fracesco Bonami als künstlerischer Leiter mit einem neuen Konzept auf. Ausgehend von der Erfahrung, dass nicht nur eine Sichtweise auf die Kunst gelten kann, gestaltete er unter dem Titel Träume und Konflikte neun Abteilungen, für die jeweils ein Kurator zuständig war. Das Konzept ging teilweise auf. Vor allem in den langen Hallen der Arsenale, in denen ein klarer erzählerischer Ablauf möglich ist, entwickelte sich über weite Strecken eine Erzählstruktur, die sich zwischen Sinnlichkeit und kritischer Reflexion von Politik bewegte, und in der man in die Gegensätze der Gegenwart hineingezogen wurde. Die räumliche Expansion der Biennale stellte die Dimensionen der Documenta11 in den Schatten. Aber die überbordende Fülle kam der Qualität und Kraft nicht zugute. Am Ende des Arsenal-Geländes wirkte die Ausstellung so, als sei sie den Organisatoren entglitten. In der Abteilung, in der Utopie-Entwürfe und Aktionsgruppen ein Forum erhielten, wurde nicht einmal ansatzweise die Dichte erreicht, die im vorigen Jahr in der documenta-Halle zu erleben war. Auch der Teil der Zentralausstellung, der in dem klassischen Ausstellungsgelände, in den Giardini, zu sehen war, verlor das Leitthema aus dem Blick. Der zentrale Pavillon präsentierte sich wieder einmal als eine Ansammlung unterschiedlichster Arbeiten und Installationen. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass die Biennale wieder eine gewichtige Konkurrenz zur Kasseler documenta geworden ist. Auch ist bei aller Kritik das Konzept, die Verantwortung für die Auswahl und thematische Gewichtung auf mehrere Schultern zu verteilen, diskussionswürdig. Die Biennale von Venedig profitiert davon, dass sie neben ihrer zentralen Ausstellung immer noch die Beiträge der einzelnen Länder vorweisen kann. Die haben das Bild auch in diesem Jahr enorm bereichert. Großartig ist der von Fred Wilson gestaltete US-Pavillon, der am Beispiel des Mohren von Venedig Rassendiskrimierung, koloniale Unterdrückung und Einrichtungskitsch spiegelt. Erschreckend sind Patricia Piccininis (Australien) Visionen von genetisch veränderten Wesen, die halb Mensch, halb Tier sind. Und brutal war auch Santiago Sierras Arbeit: Er verwandelte den spanischen Pavillon in eine Baustelle und machte ihn für jeden unzugänglich, der nicht über einen spanischen Pass verfügt. Das war Ernst, kein Spiel. Dank ihres Konzeptes und verstärkter Werbung konnte die Biennale ihre Besucherzahl kräftig steigern. Aber wenn es ganz erfolgreich wird, werden es bis morgen Abend (Ausstellungsschluss) knapp 300000 Besucher sein. Die documenta aber konnte seit 1992 immer über 600000 anlocken.
HNA 1. 11. 2003

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