Die wahren Geschichten der Sophie Calle

Museum Fridericianum, Kassel, 8. April – 21. Mai

Die erste umfassende Ausstellung der Text-Foto-Geschichten von Sophie Calle (Jahrgang 1953) in Deutschland hat zwar eine für den Ausstellungsort im Kasseler Museum Fridericianum ungewöhnlich breite Presse-Resonanz gefunden, doch die Brisanz der Arbeiten wurde wiederum nur in kleinen Zirkeln diskutiert. Dabei hatte das Medienumfeld mit der parallel laufenden 100-Tage-Fernseh-Voyeurismus-Show „Big Brother“ gerade dazu eingeladen, die Kunstdiskussion aufzubrechen und zu untersuchen, was eigentlich Menschen dazu treibt, andere Menschen in ihrer alltäglichen Intimität zu beobachten (beziehungsweise dies zuzulassen) und dies für andere akribisch zu dokumentieren. Aber vielleicht bietet die zweite Station, das Münchner Haus der Kunst, die Gelegenheit dazu, das Versäumte nachzuholen.

Wenn man eine solche Diskussion beginnt, darf man allerdings nicht übersehen, dass die Arbeiten, die uns so überraschend zeittypisch und aktuell erscheinen, rund 20 Jahre alt sind. Das also, was in unserer Gegenwart so gewagt und abenteuerlich erscheint, hat die französische Autodidaktin weit hinter sich gelassen, denn sie wiederholt sich nicht, sondern erobert sich konsequent immer neue Themenfelder. Dabei kann für den Betrachter ihrer jetzt in Kassel gezeigten Werkschau der Eindruck entstehen, sie gehe systematisch, gleichsam wie eine Forscherin, vor, die Spurensicherung betreibt, um die Identität von sich selbst und anderen zu ergründen und um die Wahrheit der Bilder und der Worte zu überprüfen.

In den 60-er und 70-er Jahren hatten zahlreiche Künstler das Medium der Text-Foto-Geschichten erkundet. Die Fotografie, die damals noch vielerorts um ihre künstlerische Anerkennung kämpfen musste, wurde in Beziehung zu Texten gesetzt, die sie nur in den seltesten Fällen kommentierten. In den meisten Fällen erschlossen die Texte eine zweite, mal unterstützende, mal gegenläufige Ebene. So entstand häufig eine dritte, unsichtbare Ebene, auf der eine höhere oder ironisch gebrochene Wahrheit zu finden war.

Kein anderer Künstler hat die Möglichkeiten der Text-Foto-Geschichten so systematisch durchgespielt wie Sophie Calle. Ihr Werk ist – bei aller Dramatik ihrer Inhalte – in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Text und Bild. Es gibt Arbeiten wie „Das Hotel“, in denen der Text das, was auf den Fotos zu sehen ist, erläutert, dann wieder stößt man auf Werkgruppen wie „Der Schatten“, in denen die Texte die Zusammenhänge zwischen Bildern herstellen, und schließlich wird man in der Installation „Blind Color“ mit einer Arbeit konfrontiert, bei der man nicht genau weiß, ob die Texte die Bilder (die keine Fotos mehr sind) meinen und beschreiben oder ob beide Ebenen eigentlich nichts miteinander zu tun haben.

Wie sehr Sophie Calle an diesem Verhältnis von Text und Bild gelegen ist, wird an der Aufbereitung der Arbeiten deutlich. Für jede Werkgruppe fand die Künstlerin ihre eigene Ästhetik . Während sich in der frühesten Bildserie „Die Schläfer“ die Fotos nahtlos zu einer Bildwand zusammenfügen, präsentierte Sophie Calle in „Das Hotel“ die zusammengehörigen Text- und Bildtafeln jeweils als in sich ruhende Bildpaare mit museumsreifen Rahmen. Durch die klare Abgrenzung der installierten Serien in den Räumen des Fridericianums entstanden völlig unterschiedlich aufgeladene Situationen. Und eben dieser perfekt ausgeführte formale Aspekt trug dazu bei, dass sich für das Auge immer wieder neue Reize anboten.

Wer oder was ist eigentlich Sophie Calle? Eine Fotografin, die Texte schreibt, um auch die Wahrheit jenseits des Bildes zu ergründen? Eine vom Wesen des Menschen faszinierte Psychologen, die austestet, bis an welche Grenzen sie gehen kann? Oder eine Spielerin, die die Wirklichkeit mit deren Hilfe neu erfindet? Nun, in erster Linie ist sie eine Erzählerin. Sie breitet Geschichten aus, die der unterschiedlichen Erzählstrukturen folgen. Am deutlichsten wird das in ihren detektivischen Projekten: 1980 verfolgte sie einen Mann, den sie zufällig und flüchtig kennengelernt hatte bis nach Venedig („Suite Ve´nitienne“); ein Jahr später ließ sie sich selbst unter Beobachtung stellen („Der Schatten“); im selben Jahr durchsuchte sie als Zimmermädchen die bewohnten Hotelzimmer, um Hinweise auf die Lebensweisen und Ordnungsvorstellungen der abwesenden Gäste zu ergründen („Das Hotel“); und schließlich nahm sie 1983 Kontakt zu Leuten auf, deren Anschriften sie in einem fremden Adressbuch gefunden hatte („Der Mann mit dem Adressbuch“). Diese Texte lesen sich wie kleine Kriminalgeschichten. Obwohl sie zum überwiegenden Teil in kurzen sachlichen, manchmal bürokratisch klingenden Sätzen Banalitäten festhalten, entfaltet sich für die Leser in ihnen eine knisternde Spannung, die aus der Heimlichkeit und Illegalität der Aktion rührt. Es wird genau jene heimliche Neugier geweckt, die auch dann noch im Spiel ist, wenn wir wissen, dass wir zusammen mit Hunderttausenden in den Menschenzoo von „Big Brother“ blicken.

Noch überraschender aber ist, dass etwa in dem Fall der „Suite Ve´netienne“ die authentischen Bilder illustrativen Charakter gewinnen. Sie könnten auch zu den Geschichten hinzu erfunden (gestellt) worden sein. Das heißt: Genau das, was eigentlich Wahrheitsbeleg ist, landet auf der selben Ebene wie die Fiktion. Anders verhält es sich in der Serie „Das Hotel“. In ihr ähneln die Fotografien kriminalistischen Indizienfotos.

So voyeuristisch einige dieser Arbeiten wirken, so unübersehbar ist, dass Sophie Calle am radikalsten mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und Spurensuche umgegangen ist. Greifbar wird das in der Installation „Autobiographische Geschichten“, in der die Künstlerin allerdings die Fotodokumente durch reliquienhafte Objekte ersetzt. Jedes dieser Dinge aus einem im Prinzip normalen Zimmer steht für einen Lebensabschnitt, für eine Geschichte; und die wird wie in den anderen Werkreihen auf kleinen Texttafeln erzählt. Diese Arbeit unterstreicht, dass Sophie Calle eine besessene Erzählerin ist, die ihre Geschichten von Menschen in Bildreihen und Installationen visualisiert.

Die stärksten Arbeiten führen über die Einmischungen in Biographien hinaus. Nicht zu Unrecht hatten Barbara Heinrich und Rene´ Block die zentrale Eingangshalle im 1. Stock des Fridericianums der Serie „Die Blinden“ gewidmet. Sophie Calle hatte blinde Menschen ihr Bild von Schönheit beschreiben lassen und diese Beschreibung in ein Bild umgesetzt. So entstand eine lockere Bilderfolge von Dreier- und Vierergruppen, bestehend aus einem Porträt des blinden Menschen, aus einer Texttafel mit der Beschreibung und aus einem oder zwei Fotos mit den beschriebenen Motiven. In dieser Reihe entwickelt sich ein völlig neues Verhältnis von Text und Bild: Die Texte liefern die Vorgabe für Fotos, die eine Realität abbilden, in Wahrheit aber etwas meinen, was nicht wirklich existiert, sondern nur vorgestellt ist. Insofern spitzt diese Arbeit die Frage nach der Wahrheit der Fotografie (und damit der Wirklichkeit) zu. Noch entschiedener geht die Installation „Blind Color“ (Farbenblind) vor, die Aussagen von Blinden über „Gesehenes“ mit Bekenntnissen abstrakter Maler auf grauen Tafeln konfrontiert, wobei das Zentrum eine Fotografie bildet, der einen Blinden in einem Ausstellungsraum vor grauen Farbtafeln zeigt.

In diesen beiden zuletzt erwähnten Arbeiten wird die Manipulierbarkeit der Texte und Bilder ebenso deutlich wie die Fragwürdigkeit des Behaupteten. Denn auf einmal wird klar, dass die Beschreibung des eingebildeten Sehens genauso schlüssig ist wie die Positionen der sehenden Künstler. Darin verbirgt sich nicht unbedingt ein Seitenhieb gegen die monochrome Malerei. Vielmehr wird damit die Beliebigkeit der Wahrheitsansprüche vorgeführt. Sophie Calle spielt eben auch mit den Ausdrucksmitteln von Text und Bild.
Kunstforum 2000

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