Begreifbare und begehbare Bilder

Hannover feiert anlässlich der Expo seinen Künstler: Das Sprengel Museum präsentiert das Werk von Kurt Schwitters und illustriert dessen Wirkung auf nachfolgende Generationen.

HANNOVER Kein zweiter Künstler des 20. Jahrhunderts hat es wie Kurt Schwitters geschafft, sein gesamtes künstlerisches Schaffen unter einen Begriff zu stellen, der dazu noch ein inhaltsloses Wortfragment ist: Merz. Der 1887 in Hannover geborene Kurt Schwitters, der 1948 nahezu vergessen in England starb und erst später wieder entdeckt wurde, hatte sein Schlüsselwort Merz 1918 aus einer Anzeige der Commerz- und Privatbank herausgeschnitten und als ein Element in eine seiner Kompositionen eingefügt. Er schuf darauf hin eine Reihe von Merzbildern, nannte seine Kompositionsweise Merzmalerei, konstruierte schließlich eine riesige begehbare Skulptur (Merzbau) und nannte sich zeitweise Kurt Merz Schwitters. Diese radikale Zuspitzung auf den einen Begriff veranlasste nun das Sprengel Museum, seine umfassende Schwitters-Ausstellung Merz zu nennen. Gesamtkunstwerk Das Wort Merz ist nicht mit einem Kunst- oder Stilbegriff gleichzusetzen. Eher kann es für das Bemühen von Schwitters stehen, die traditionelle Kunst zum Leben und zur Wirklichkeit zu öffnen, Elemente des Alltags in sein Werk aufzunehmen und so eine Art Gesamtkunstwerk zu schaffen. Dabei nutzte er Techniken, die wenige Jahre zuvor entwickelt worden waren. Um 1912 hatten Georges Braque und Pablo Picasso begonnen, die Bildsprache zu erweitern und in ihre Kompositionen Wirklichkeitszitate in Form von Zeitungsausschnitten einzubeziehen. Man nennt diese flächigen Zusammenfügungen Collagen. Wenn auch andere Fundstücke (Netze, Hölzer, Gitter) in die Collage einbezogen werden und plastische Bildobjekte (Reliefs) entstehen, spricht man von Assemblagen. Es waren ebenfalls Braque und Picasso, die erste Assemblagen schufen. Kurt Schwitters allerdings war der Künstler, der in den 20er- Jahren am radikalsten das Prinzip der Assemblage verfolgte. Die meist zu Objektkästen erweiterten Assemblagen von Kurt Schwitters bilden das Zentrum der Ausstellung in Hannover. Dabei wird deutlich, wie der Merz-Künstler gleichzeitig verschiedene Linien verfolgte. Mal dienten die einbezogenen Fundstücke dazu, die Bildsprache aufzubrechen, dann wieder war das ganze Bestreben darauf ausgerichtet, eine in sich stimmige, harmonische Komposition zu schaffen. Unübersehbar ist aber, dass Schwitters vor allem Maler war und blieb. Selbst dort, wo sich die Bildobjekte zu richtigen Reliefs erweitern oder in eigenständige Skulpturen verwandeln, ist der malerische Impuls bestimmend. Die vorwiegend abstrakten und konstruktiven Kompositionen gewinnen durch die Wirklichkeitszitate (Zahlen, Wörter, Gegenstände) einen gebrochenen Realitätsbezug. Immer wieder ist man, wenn das Gesamtwerk von Schwitters ausgebreitet wird, überrascht, dass der Künstler, der mit seinen Bildobjekten zu den Pionieren der Avantgarde gehörte, in seiner Malerei, die er vor allem während seines Exils (ab 1937) zum Broterwerb betrieb, merkwürdig traditionell und unauffällig blieb. Offenbar war er in dieser Beziehung eine gespaltene Persönlichkeit. Andere Künstler Die herausragende Ausstellung in Hannover wird gegenüber früheren Schwitters-Präsentationen dadurch unvergleichlich, dass sie mit Bildern, Objekten und Rauminstallationen durchmischt ist, die von jüngeren Künstlern stammen und in der Tradition von Schwitters stehen. Dabei ist natürlich nicht immer gesagt, dass diese Künstlers auch jeweils in direkter Abhängigkeit von Schwitters zu sehen sind. Gleichwohl ist das sich ergebende Gesamtbild schon überwältigend, das dokumentiert, wie dominierend das Prinzip der Assemblage ist, die sich zum Relief, zur Skulptur und zum Raum erweitert und die sich aus Dingen zusammensetzt, die der Wirklichkeit entnommen sind. George Brecht, Tony Cragg, Richard Hamilton, Edward Kienholz, Nam June Paik und Daniel Spoerri sind nur einige Künstler, deren Werke in Beziehung zu Schwitters zu setzen sind. Und obwohl man weiß, dass das Werk von Joseph Beuys aus anderen Zusammenhängen kommt, rührt die Nähe seiner Objektkästen zu den Arbeiten von Schwitters an.
HNA 7. 9. 2000

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