Die Garnisonkirche. Im Innenhof des Caruso war 1987 das Zentrum eines documenta-Beitrags
Südliche, italienische Atmosphäre zur documenta. Funktioniert das in Kassel? Natürlich nicht richtig, aber ansatzweise. Allen Skeptikern zum Trotz hat sich die Idee, den Ausstellungsbesuchern zwischen der Orangerie und dem Standort Binding-Brauerei eine Schiffsverbindung anzubieten, bewährt. Das große Vorbild dafür liefert das von Kanälen durchzogene Venedig, in dem man mit dem Wasserbus (Vaporetto) durch die Stadt und zur Biennale fährt. Die Fulda ist durch dieses Angebot nicht zum Canal Grande geworden. Aber viele nutzen und genießen die Fahrt mit der Forelle und freuen sich, die Stadt aus einer neuen Perspektive kennen zu lernen. Südliche Atmosphäre empfindet man auch bei diesen hoch sommerlichen Temperaturen im Innenhof des Restaurants Caruso. Vor allem viele auswärtige Besucher ahnen nicht, dass es sich bei diesem Hof um das zerstörte Innere der 1757 bis 1770 erbauten Garnisonkirche handelt, von der nur noch die Umfassungsmauer im Erdgeschossbereich steht. Die Mauer bietet nicht nur Schutz. Ihr historischer Charakter sorgt für jene vertraute Stimmung, die man aus den Gartenlokalen alter Städte im Süden kennt und die sonst in Kassel unbekannt ist. Hier kann man bei italienischen Speisen ein Stück Ferne genießen. Für die Innenstadt ist es ein Gewinn, dass auf diese Weise die Ruine wieder zum Leben erweckt worden ist. Über viele Jahre war sie wie vergessen und bildete nur einen Schandfleck in der Innenstadt. Bevor das Mauerwerk restauriert worden war, konnte man nicht einmal die historische Qualität der Gebäudereste erahnen. Gleichwohl hatte es 1987 schon einmal eine Zeit der Wiederentdeckung und -erweckung gegeben. Damals leitete Manfred Schneckenburger zum zweiten Mal die documenta. Nachdem er bei seiner ersten Kasseler Ausstellung im Jahre 1977 in der Karlsaue zahlreiche Außenskulpturen platziert hatte, lud er zehn Jahre später vermehrt Künstler ein, die ihre Projekte im Dialog mit der Stadt und ihrer Architektur entwickelten. Einer von ihnen war der japanische Bildhauer Tadashi Kawamata. Er entdeckte für sich die Ruine der Garnisonkirche als gestalterische Herausforderung. Er entwarf einen Plan, nach dem er die Ruine in eine Skulptur einbinden wollte. Gemeinsam mit Helfern suchte er in Kassel und Umgebung alte, schmale Holzbretter zusammen und passte sie so in ein zuvor erbautes Holzgerüst ein, dass eine spiralähnliche Form, ein Strudel, entstand. Die Konstruktion führte von außen nach innen, übersprang die Mauer und gab der darniederliegenden Ruine eine neue, lebendige Form. Die Ruine schien von einer fließenden Bewegung umspült zu werden. Dank dieser Konstruktion wurde erstmals wieder das Innere der Ruine zugänglich. Das Modell der Skulptur wurde nach der documenta8 aus Sondermitteln angekauft und ist in der Neuen Galerie zu besichtigen. Es vermittelt sehr gut, wie es Kawamata verstand, aus der Anordnung der Bretter eine Form zu schöpfen, die voller Kraft ist. Die Bretter scheinen von dem Sog erfasst zu werden, den das Innere der Skulptur ausübt. Die Neue Galerie zeigt das Modell innerhalb der bis zum 15. September laufenden Ausstellung documenta Erwerbungen. Es gehört aber auch sonst zur ständig gezeigten Sammlung
HNA 1. 9. 2002